Arnsberg. Eduard Bulaievskiyjs verlor sein Bein im Krieg in der Ukraine. Jetzt kämpft er in Arnsberg ums Laufen mit einer Prothese. Hier ist seine Geschichte.
„Was bin ich noch wert?“, fragt Eduard Bulaievskiyjs. „Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen!“ Er blickt ins Leere. Noch vor zweieinhalb Jahren waren sie eine glückliche Familie – in Oleschky, Ukraine. Er, seine Frau Lilia, die zwei Kinder und Oma. Heute hat der 40-Jährige alles verloren: Nicht nur seine Heimat und seinen Job, sondern auch sein rechtes Bein.
Er erinnert sich: Es ist der 16. April 2023, etwa 9 Uhr. Eduard hört einen lauten Knall. So nah, dass er direkt nach draußen läuft. „Das Haus meines Nachbarn wurde getroffen - ich wollte ihm helfen“, erzählt er, „aber er sagte, dass es ihm gut gehe.“ Also bleibt Eduard am Tor stehen und wartet. Nur kurze Zeit später hört er erneut das Zischen einer Bombe. „Wenn du das täglich hörst im Krieg, hörst du heraus, ob es nah oder weiter weg ist.“ Es ist nah – sehr nah. Die Rakete schlägt direkt am Straßenrand vor seinem Haus ein. Nur wenige Meter von ihm entfernt.
Die Splitter fliegen umher, zerstören alles. „Ich habe viele abbekommen – aber der große Splitter riss mir das Bein ab.“ Er fällt, verliert viel Blut – und kriegt all das mit. „Mein Nachbar kam und hat mein Bein verbunden“, sagt Eduard, „er wusste, wie das geht – war mal in Afghanistan.“ Der Krankenwagen bringt ihn ins nahe gelegene Krankenhaus. „Fünf Minuten später und ich wäre tot gewesen.“
Lilia lässt sich nicht abwimmeln
Sofort wird er operiert. Das Bein können die Ärzte nicht retten – es wird unterhalb des Knies amputiert. Als er nach der Narkose aufwacht, so erzählt er, will er nicht, dass seine Frau informiert wird. So soll sie ihn nicht sehen. Doch Lilia, die zu diesem Zeitpunkt bereits mit ihren zwei Kindern in Polen lebt, lässt sich nicht abwimmeln. Da er Blutspenden braucht, mobilisiert sie alle Freunde und Bekannte in Oleschky, per Handy, und schafft es so, dass Eduard viele Blutspenden bekommt. Denn diese sind rar – ebenso wie Medikamente, auch Antibiotika.
„Wir waren in Oleschky nicht ganz unbekannt“, sagt Lilia, „viele Menschen haben sofort Blut gespendet – dafür sind wir dankbar.“ Sie habe schon damals nicht gehen wollen – und werde es auch jetzt nicht, sagt sie ihrem Eduard. Denn damals sei es sein Wunsch gewesen, dass sie mit ihrem 17-jährigen Sohn und ihrer zweijährigen Tochter flieht. „Bevor unser Sohn 18 geworden wäre und dann hätte kämpfen müssen.“
Eduard selbst bleibt – erstens, weil er kämpfen kann; zweitens, weil er Lilias Oma mit ihren damals 85 Jahren nicht alleine lassen will.
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Eduard kann im Krankenhaus nur spärlich versorgt werden – es fehlt an allem. „Es gab keine Ärzte – und auch keine Medikamente“, sagt er. Sein Beinstumpf entzündet sich immer wieder – und jedes Mal muss ein weiteres „Stück entfernt“ werden. So lange, bis es Bekannten, die bereits in Arnsberg leben, gelingt, mit Unterstützung vieler ehrenamtlicher Unterstützerinnen und Unterstützer einen Transport ins Mescheder Krankenhaus zu organisieren. Lilia und seine Kinder kommen ein paar Tage später nach.
Nun lebt das Paar mitten in Arnsberg – in einer Dachgeschosswohnung. 2300 Kilometer weit weg von ihrer Heimat, von ihrer Oma. Heute kämpft Eduard nicht mehr um seine Sicherheit, heute kämpft er darum, wieder laufen zu können. Laufen mit einer Beinprothese, für die er und seine ehrenamtlichen Unterstützer ebenfalls gekämpft haben. Er kämpft zudem mit seinen Phantomschmerzen - bekommt Medikamente. „Doch ich habe Halluzinationen bekommen“, sagt Eduard, „sah überall mein Bein.“ Er setzt die Tabletten ab.
Eduard ist einer von 380 Männern aus der Ukraine, die aktuell in der Stadt Arnsberg wohnhaft sind. Insgesamt leben 995 Schutzsuchende im Stadtgebiet.
„Und über ihr fliegen ständig Raketen und Drohnen“
Lilias Oma lebt nun allein in Oleschky – hat niemanden. „Meine Oma wird 87 Jahre alt“, sagt Lilia. „Aber sie weigert sich strikt wegzufahren.“ Jeden Tag telefonieren sie – dafür läuft ihre Oma einen Kilometer weit zu ihrer Bekannten, weil sie dort Handyempfang hat. „Und über ihr fliegen ständig Raketen und Drohnen.“
Eduard hingegen sitzt auf der Couch; starrt auf etwas, das aussieht wie ein kleines Steinchen. „Das ist einer der Splitter, die ich abbekommen habe“, erklärt er, „den haben sie mir aus der Schulter geholt.“ Er steckt ihn zurück in seine Geldbörse. „Normalerweise reden wir nicht darüber“, sagt er, „jetzt, wo wir darüber reden, kommt alles wieder hoch.“ Das Gefühl der Wertlosigkeit; das Gefühl der Machtlosigkeit.
„Ich habe großen Respekt vor Eduard“, sagt Olga Dyck, die dolmetscht und die Familie ehrenamtlich unterstützt. „Er jammert nicht, beschwert sich über nichts, möchte auch nicht anders behandelt werden und ist optimistisch.“ Sie sei es gewesen, die der Familie anfangs von der Wohnung abgeraten habe, weil sie in einem Altbau-Dachgeschoss liegt. Aber er habe gesagt, dass er das schaffe. „Alles ist besser als das Wohnheim für Flüchtlinge“, ergänzt Eduard.
In der Ukraine arbeitete er als Leiter eines Security-Dienstes einer großen Baufirma – durchtrainiert und stark. Es ist ihm anzumerken, dass ihm diese Zeit fehlt; das Gefühl gebraucht zu werden. Lilia und die Kinder stehen zu ihm. „Unsere Tochter wünscht sich immer, dass ein Zauberer ihm sein Bein zurückzaubert“, sagt Lilia. „Die Kinder waren einfach nur froh, dass ihr Papa noch lebt.“
Reha-Klinik oder Physiotherapie mit Erfahrung gesucht
Die Kleine möchte mit ihrem Vater rennen, sich von ihm auf den Schultern tragen lassen; Radfahren und schwimmen gehen – und genau das scheint Eduard anzuspornen. Denn er zieht sich nicht zurück, lässt sich nicht gehen. Ganz im Gegenteil: Als er seine Beinprothese bekommt, versucht er direkt zu laufen, Treppen zu steigen, Hindernisse zu überwinden. Doch so einfach ist das gar nicht. „Es ist notwendig, dass er vernünftig lernt, mit der Prothese zu laufen“, erklärt Olga Dyck. „Das andere Bein darf nicht zu viel belastet werden; der Rücken muss geschont werden.“
Daher suchen sie, Eduard und seine Familie aktuell nach einer Möglichkeit, eine passende Reha-Maßnahme bewilligt zu bekommen und zudem eine Reha-Klinik oder Physiotherapie, die sich mit Amputationen dieses Ausmaßes auskennt. Auch eine psychologische Unterstützung, bestenfalls in seiner Muttersprache, ist das Ziel. Schon bald möchte das Paar auch mit einem Deutschkursus beginnen – online. „Das hat jetzt erstmal Priorität“, sagt Eduard: „Laufen lernen und Deutsch.“