Winterberg-Altastenberg. Das Leben im Haus Sonnenschein bei Winterberg ist für Mechthild S. (72) ihre schlimmste Zeit. Nun redet sie zum ersten Mal öffentlich darüber.
Mechthild S. ist 72 Jahre alt, als sie das erste mal wieder in Altastenberg vor dem ehemaligen Haus Sonnenschein steht. Sie will es wenigstens noch einmal sehen. Sie denkt: „Vielleicht bereue ich es, wenn ich es nicht tue.“ Sie war sechs, als ihre Eltern entschieden, sie in das Kinderkurheim zu schicken. Mechthild S. ist ein Verschickungskind. Eine der vielen Stimmen, die die Verhältnisse in den damaligen Kinderkurheimen kritisieren, öffentlich machen, aufarbeiten. Zum ersten Mal spricht sie nun mit der WP öffentlich über die Zeit, die sie als die schlimmste ihres Lebens in Erinnerung hat.
Ärzte im Ruhrpott sind sich einig: Das Mädchen muss zur Kur
Im Frühjahr 1958 soll Mechthild S. eingeschult werden. Sie ist dünn, die Schulärztin findet: Zu dünn. Zu schwach. Lieber solle die Familie, die damals im Ruhrpott wohnt, noch ein Jahr warten mit der Einschulung. Doch Mechthild S. will unbedingt zu Schule, das Nachbarskind geht doch auch. Die Eltern geben nach. Im ersten Schuljahr ist sie ständig krank. Irgendwann empfehlen die Ärzte, das Mädchen in auf Erholungskur zu schicken. Ihre Sachen werden etikettiert, eingepackt. Ihre Tante fährt sie zum Bahnhof. „Ich habe später erfahren, dass meine Eltern einen Brief bekommen haben, in dem stand, dass man keine Abschiedsszene am Bahnsteig wolle. Deswegen hat meine Tante mich gebracht. Ich hab mich aber ständig gefragt, wieso meine Eltern mich nicht gebracht haben.“ Zwischen den anderen Kindern fühlt sich Mechthild S. schon am Bahnsteig verloren. Sie wird einer „Tante“, also einer Betreuerin zugeordnet. Den Namen weiß sie noch genau. Dann fährt der Zug los. Ziel: Haus Sonnenschein, Altastenberg.
Ihr Bericht deckt sich mit anderen Berichten der Verschickungskinder in Altastenberg
Mechthild S. ist erst sechs Jahre alt, als sie wochenlang allein in in dem Kinderkurheim wohnt. Ihre Erinnerungen sind nicht immer genau, sie erinnert sich an „verschiedene Punkte“, wie sie sagt. Der Verein AKV-NRW e.V., Anlaufstelle für Verschickungskinder, veröffentlicht im Netz Berichte von damals. Mindestens zwei Schilderungen zum Haus Sonnenschein in Altastenberg decken sich mit dem, was Mechthild S. berichtet.
Hier muss aufgegessen werden
„Es war, als würde unser Wille gebrochen werden. Als dürften wir kein Selbstbewusstsein und keine Selbstachtung entwickeln. Ich könnte um jedes Verschickungskind weinen.“
„Im Speisesaal ging man mit seinem Teller an einem Tisch vorbei, an dem man Essen bekam. Das musste aufgegessen werden. Ich weiß noch genau, das ein Kind am Nebentisch erbrach. Es musste dennoch aufessen.“ Besonders quälend waren für das Mädchen damals die Schlafenszeiten. „Ich musste ruhig liegen bleiben, ich durfte mich nicht bewegen. Immer wieder kamen die Tanten und haben uns die Decken bis zur Nase hochgezogen. Irgendwann schien ich mich aber doch bewegt zu haben und wurde als Strafe auf den Flur geschickt, dort musste ich allein sitzen bleiben, bis Weckzeit war.“ Zur Toilette dürfen die Kinder nur zu bestimmten Zeiten. Zweimal habe sie sich eingenässt, erinnert sie sich. Dies sei einfach in Kauf genommen worden. Sie erinnert sich daran, wie sie draußen gespielt habe. Damals wächst der Sauerampfer. „Den aß ich gern.“ Als die Kinder wieder in das Haus sollen, werden sie mit einem Gartenschlauch abgespritzt, das Wasser ist eiskalt. Mechthild S. kann sich nicht daran erinnern, dass sie mit anderen Kindern Freundschaft geschlossen hat. Sie sei allein gewesen, die Tanten streng. Ein Lebenszeichen von den Eltern bekommt sie sechs Wochen lang nicht. Das Heimweh ist damals das Schlimmste für sie. Am Bahnhof erkennen ihre Eltern sie nur an dem blauen Mäntelchen, das sie trägt. „Ich hatte viel zugenommen, wir wurden gemästet. Das war ja nun auch der Grund, wieso wir dort waren.“
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Sechs Wochen lang darf Mechthild S. keinen Kontakt zu ihren Eltern haben
Niemals spricht Mechthild S. mit ihren Eltern über diese sechs Wochen in Altastenberg. Sie empfindet keine Wut auf ihre Eltern. „Sie wussten es nicht besser und sie wollten, dass es mir gut geht. Und Ärzte waren damals noch Götter im weißen Kittel. Was sie sagten, galt. Es hatte viel mehr Bedeutung als heute.“ Dennoch prägen diese sechs Wochen Mechthild S. für immer. „Es war, als würde unser Wille gebrochen werden. Als dürften wir kein Selbstbewusstsein und keine Selbstachtung entwickeln. Ich könnte um jedes Verschickungskind weinen.“
Erst 2019 begreift sie, dass nicht nur sie die schlimmen Erinnerungen hat
2019 erst, Jahrzehnte später - Mechthild S. hat mittlerweile geheiratet, vier Töchter, fünf Enkel - gehen die ersten Verschickungskinder mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit. Zum ersten Mal begreift sie, dass nicht nur sie diese schrecklichen Erinnerungen mit sich herumträgt. Das es anderen genauso geht, sogar sehr vielen. Zum ersten Mal setzt sie sich aktiv mit ihrer Vergangenheit auseinander. „Ich hatte nie verstanden, dass so viele betroffen waren. Ich las wirklich schlimme Sachen. In dieser Zeit hat mich das alles sehr beschäftigt, ich bekam sogar Hautausschlag.“ Sie trifft sich mit Gleichgesinnten, führt viele Gespräche mit Menschen, die dasselbe erlebt haben. Das hilft ihr.
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AWO Westliches Westfalen geht in die Aufarbeitung
Andreas Frank, Geschäftsführer der AW Kur und Erholungs GmbH, bestätigt im Gespräch mit der Westfalenpost, dass das Haus Sonnenschein in Altastenberg eines der Kindererholungsheime der AWO Westliches Westfalen gewesen ist. Seitdem die Verschickungskinder ihre Geschichten in die Öffentlichkeit tragen, beschäftigt sich die AWO Westliches Westfalen intensiv mit der eigenen Vergangenheit. Dazu ist Andreas Frank Mitglied des „Runden Tisches Verschickungskinder“, mit dem das erlittene Leid im Zuge der sogenannten „Kinderverschickung“ der 1950er- bis 1980er-Jahre systematisch mit allen damals beteiligten Akteuren wie Kostenträger, Landschaftsverbände, Kommunen und die Freie Wohlfahrtspflege aufgearbeitet werden soll. Dieser gründete sich auf Initiative der Landesregierung NRW. „Wir versuchen, vieles aufzuarbeiten. Dazu gehen wir auch in die Archivprüfung.“ Teils stelle sich erst bei Umbauarbeiten der eigenen Häuser heraus, dass dies früher ein Kindererholungsheim gewesen sei. Detaillierte Unterlagen über diese Zeit gibt es in den seltensten Fällen.
„Das aus heutiger Sicht unangemessene erzieherische Maßnahmen in unseren Häusern angewendet wurden, kann und will ich nicht ausschließen. Was geschildert wird, klingt glaubwürdig.“
Naherholungsgebiet Sauerland
Andreas Frank erklärt zu den früheren Maßnahmen: „Es gab damals den Wunsch und das Ziel, Kinder beim Erhalt und der Förderung ihrer Gesundheit zu unterstützen. In den 50er Jahren waren viele Kinder unterernährt und sehr dünn, die Städte stark verraucht. Daher wurden die Kinder mit guten Absichten in das Naherholungsgebiet Sauerland oder Richtung Meer geschickt.“ Die AWO erreichen immer wieder Berichte von Kindern, die positive Erinnerungen mit der Kindererholung verbinden, andere Rückmeldungen berichten von negativen Erlebnissen. Das pädagogische Verständnis der Nachkriegszeit sei gesamtgesellschaftlich jedoch ein anderes gewesen als heute. „Das aus heutiger Sicht unangemessene erzieherische Maßnahmen in unseren Häusern angewendet wurden, kann und will ich nicht ausschließen. Was geschildert wird, klingt glaubwürdig“ so Frank.
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Heutzutage bietet der Träger Mutter-Kind-Kuren
Die AWO Westliches Westfalen betrieb reine Kindererholungsheime, medizinische Kliniken, die es damals auch gegeben hat, gehörten nicht dazu. Heutzutage bietet der Träger Mutter-Kind-Kuren an oder betreibt Einrichtungen zur Entlastung und gesundheitlichen Stärkung von Pflegenden Angehörigen. „ Kinderschutzkonzepte und Gewaltpräventionsmaßnahmen sind hier fest verankert. Erholungsmaßnahmen für Kinder ab drei Jahren, ärztlich zum Aufpäppeln verordnet, von den Eltern über den Zeitraum mehrerer Wochen allein mit dem Zug verschickt, und von Heimen aufgenommen gibt es seit den 80er Jahren nicht mehr und wären heute aus allen Blickwinkeln der Verantwortlichkeit von Handelnden nicht mehr vorstellbar“, erklärt Frank. In den 50er Jahren betreuten die Ferienmaßnahmen häufig ehrenamtliche Lehrerinnen oder Pädagoginnen, um den Kindern Erholung anbieten zu können. Das geschah nach bestem Wissen und Gewissen der damaligen Zeit. Heute ist es teils schwer nachzuvollziehen, wie die Erholungsmaßnahmen verwirklicht wurden. „Daher hat die Aufarbeitung der ehemaligen Kinderverschickung mit all ihren Facetten für die Arbeiterwohlfahrt eine hohe Priorität. Dafür reiste Andreas Frank vor einiger Zeit mit einem ehemaligen Verschickungskind nach Norderney, in das dortige ehemalige Kinderkurheim, um über dessen Erlebtes zu sprechen und aufzuarbeiten.“ Auch auf Norderney betreibt die AW Kur und Erholungs GmbH ein ehemaliges Kindererholungsheim, das heute ein Gästehaus für Senioren ist. Es wird daran gearbeitet, eine Anlaufstelle bei der AWO Westliches Westfalen zu schaffen, bei der die Verschickungskinder ihre Geschichten erzählen können und die Möglichkeit bekommen, ihre persönliche Vergangenheit aufzuarbeiten.
Vor einem Monat traut sie sich
Vor einem Monat ist Mechthild S. auf der Autobahn unterwegs zu einem Familientreffen. Sie entscheidet, die Ausfahrt Richtung Winterberg zu nehmen. Erst ist sie unsicher, soll sie noch einmal zu diesem Haus zurückkehren? Oder lieber nicht? Doch wenig später steht sie vor dem Gebäude, darf hineingehen, läuft durch die Flure und Räume von früher. Irgendwann steht sie vor den großen Fenstern, wie damals. Schaut auf die großen Berge, wie damals. „Ich erinnerte mich daran, wie ich als Kind vor denselben Fenstern mit derselben Aussicht stand mit dem einzigen Gedanken, dass hinter den Bergen mein Zuhause ist und ich dort hin will.“
Mittlerweile leidet sie nicht mehr darunter, sagt sie. „Es wühlt mich nicht mehr auf. Aber vergessen werde ich es nie.“
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