Berlin. Auf der Berlinale erhält die Schauspielerin den Ehrenpreis. Dafür ist sie eigentlich noch zu jung. Aber verdient hat sie ihn allemal.
Tilda Swinton, Hure und Heilige: Ein Klischee, gewiss. Aber gleich in ihrem ersten Film spielte sie das, ganz bildlich. In Derek Jarmans Biopic „Caravaggio“ ist sie die Muse des Malers, der sie aus der Gosse holt, dem sie Modell für Madonnen steht. Und zur Muse wird. Tilda, die Androgyne: Wer sonst hätte, als Sally Potter Virginia Woolfs „Orlando“ verfilmte, die Titelfigur spielen sollen, die nicht nur durch vier Jahrhunderte reist, sondern auch durch die Geschlechter?
Ihre größe Rolle ist Tilda, die Bezaubernde
Tilda, die Eiskalte: In „Michael Clayton“ serviert sie kühl den coolen George Clooney ab. Und schwitzt sich auf der Damentoilette dann doch in eine Panikattacke. Wofür es einen Oscar gab. Tilda, die Komische: Spät durfte sie dieses Talent offenbaren. Dann aber umso vehementer, auch verbunden mit ihrer Lust an Verwandlung, Überzeichnung und Mut zur Hässlichkeit.
Ihre größte Rolle aber ist Tilda, die Bezaubernde. Denn die gibt sie nicht nur in etlichen ihrer Filme, sondern auch in echt, wann immer sie in der Öffentlichkeit auftritt. Und jede Premiere und jedes Filmfestival adelt. Und ihm besonderem Glanz verleiht, mit immer neuen, extravaganten und immer originellen Outfits.
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Tilda Swinton erhält am 13. Februar den Ehrenbär der Berlinale. Mit 65 ist sie fast zu jung für einen Preis fürs Lebenswerk. Dreht sie doch unermüdlich weiter, gerade „The Ballad of a Small Player“ mit dem deutschen Regisseur Ed Berger. Diese Ehrenbär-Preisträgerin scheint erst mal nicht so schillernd wie ein Steven Spielberg, der fast nie zur Berlinale kam. Aber genau deshalb ist Tilda Swinton doch genau die Richtige für gerade diese Jubiläums-Berlinale zum 75.
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Auf der Berlinale war sie schon mit 26 Filmen, in fast allen Sektionen
Denn die Schottin dürfte einer der internationalen Stars sein, der am häufigsten auf diesem Festival war. Allein 26 Filme hat sie hier präsentiert, darunter gleich ihren ersten, besagten „Caravaggio“, vor 38 Jahren, im Februar 1987. Sie hat also die Hälfte der Festivalgeschichte miterlebt. Und mitgeprägt. War in so ziemlich jeder Sektion vertreten, Wettbewerb, Panorama, Berlinale Special, am häufigsten im Forum.
Vor neun Jahren stellte sie auf der Berlinale auch ihr Regiedebüt im Kompilationsfilm „The Seasons in Quincy: Four Portraits of John Berger“ vor. Einen Bären in Silber hat sie nie bekommen, dafür gleich zwei in Plüsch, den Teddy und den Ehren-Teddy. Und 2009 war sie, unvergessen, die schillernde Präsidentin der Internationalen Jury, zu der auch der damals schon schwer kranke Christoph Schlingensief zählte, mit dem sie auch schon gedreht und auch eine Beziehung gehabt hat.
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
In Berlin ist sie sogar gleich zwei Mal vor laufender Kamera durch die halbe Stadt geradelt. Einmal 1988, kurz vor Mauerfall, auf der Westseite der Mauer, in „Cycling the Frame“, und dann 20 Jahre nach Mauerfall, in „The Invisible Frame“, wo sie oft nicht mehr weiß, wo die Mauer früher gestanden hat.
Mit der Berlinale ist sie groß, ist sie Schauspielerin geworden
Die Berlinale, das erzählt sie immer wieder, und immer wieder gern, ist ihr Festival. Mit ihm ist sie groß, überhaupt erst Schauspielerin geworden. Es war ihr erster Film, ihr erstes Festival. Und wie sie mit ihrem Regisseur Derek Jarman ins noch leere Delphi-Kino kam, zu einer Kopieprobe, da tanzte sie mit ihm vor Glück zwischen den Stuhlreihen. Keine Frage, so was verbindet. Und klar kommt man da immer wieder. Auch einfach so, ohne Film im Gepäck. Um dabei zu sein.
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Insofern ist es keineswegs zu früh, sondern eigentlich sogar höchste Zeit, dass La Swinton auch mal einen Bären bekommt. Und gleich in Gold. Hat sie doch in Venedig schon vor fünf Jahren den Ehren-Löwen erhalten.
Tilda Swinton ist eine Fürstin des Films. Da passt es, dass sie aus einem der ältesten Clans Schottlands stammt. Und sie ist auch eine Sphinx des Kinos. Weil ihr Aussehen so markant wie rätselhaft ist und sich anbietet als Projektion für verschiedenste Charaktere. Ätherisch, androgyn, alterslos, entrückt. Und dann doch wieder ganz nahbar. Ein Widerspruch in sich, der sich aufs Schönste auflöst.
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Und wie in „Caravaggio“, ist sie auch im wahren Leben zur Muse geworden. Für Derek Jarman, bis zu dessen Tod, später auch für Jim Jarmusch oder Wes Anderson, zu dessen skurriler Filmfamilie sie zählt, zuletzt erstmals auch für Pedro Almodóvar.
Mühelos wandelt sie zwischen Arthouse-Film und Blockbusterkino
Swintons Vorliebe ist das andere, innovative, schräge, experimentelle, radikale und auch politische Kino. Dem hat sie sich verschrieben. Aber mühelos hat sie auch im Blockbusterkino Fuß gefasst, spielte etwa die Weiße Hexe Jadis in den „Chroniken von Narnia“, den Erzengel Gabriel im Hollywoodspektakel „Constantine“ oder die glatzköpfige weise Älteste in Marvel-Superheldenfilmen. Diesen Spagat kriegen nur die wenigsten hin. Ihr gelingt er mühelos.
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Dabei sei die Schauspielerei eigentlich bloß Zufall gewesen, kokettiert sie immer wieder. Das habe sie nur getan, weil sie keinen ernsthaften Beruf gekriegt habe. Das sei alles ein Missverständnis. Und eigentlich wolle sie mit dem Schauspiel aufhören. Aber das hat sie schon vor 16 Jahren gesagt. Und glücklicherweise nie eingelöst
Tilda Swinton ist immer für eine Überraschung gut
Auch wenn Jarman sie fürs Kino entdeckt hat: Die Gabe kam nicht von ungefähr. Das ist Teil der Legende. Swinton, 1960 in London geboren, aber im väterlichen Domizil in Schottland aufgewachsen, besuchte zur selben Zeit wie Diana Spencer, der späteren Princess of Wales, das englische Privatinternat West Heath Girls School in Sevenoaks. Studierte in Cambridge Politik- und Sozialwissenschaften und spielte dann in der Royal Shakespeare Company. Auch hier schon gerne Hosenrollen.
Seither dreht sie nicht nur unermüdlich Filme. Sie hat 2008 auch ein eigenes Filmfestival in Schottland veranstaltet, mit dem poetischen Titel The Ballerina Ballroom Cinema of Dreams, tourte ein Jahr darauf mit einem mobilen Kino durch Schottland. Und trat mit ihrem engen Freund David Bowie im Videoclip zu dessen Single „The Stars (Are Out Tonight)“ auf. Swinton ist immer für eine Überraschung gut.

Wir müssen an dieser Stelle mal persönlich werden. Der Autor dieser Zeilen durfte Tilda Swinton schon einige Male interviewen. 2009, als sie Präsidentin war, hätte ich sie vorab besuchen sollen, in ihrem Anwesen Nairn im hohen Norden Schottlands, wo sie mit ihren Zwillingen und ihrem Mann, dem Maler John Byrne, lebt. Das ist allerdings recht entlegen, die Anreise hätte sich lange hingezogen. Ich habe abgesagt. Einer der größten Fehler eines Journalistendaseins.
Beim Interview dreht sie den Spieß um und befragt den Journalisten
Wir trafen uns stattdessen zu einem Blitzbesuch in Paris, wo sie mit ihrem anderen Mann, dem Künstler Sandro Popp, lebte. Und als ich mit meinen Fragen fertig war und mich höflich zurückziehen wollte, schaute sie mich verwundert an, warum ich schon gehen wolle, wo ich doch extra hergereist sei. Und fragte dann mich aus, wie Berlin zu Mauerzeiten war und wie ich den Mauerfall erlebt habe. Eine empathische, zugewandte, neugierige Frau, ganz ohne Star-Allüren. Wie man das nicht oft erlebt. Luca Guadagnino hat ein 30-minütiges Filmgespräch mit ihr „Tilda Swinton. The Love Machine“ genannt. Das bringt das Tilda-Phänomen auf den Punkt.

Auch auf der Berlinale setzt sie wieder einen Akzent. Bei der Frage, welchen Film man anlässlich der Bären-Ehrung zeigen könnte, konnte sie aus einer über 100 Titel zählenden Filmographie wählen. Wählte aber einen ihrer allerersten, eher weniger bekannten: „Friendship’s Death“ aus dem Jahr 1987.
Darin spielt sie eine Außerirdische, die auf die Erde kommt als Botschafterin der Liebe. Aber mitten im „Schwarzen September“ 1970 landet, in der bürgerkriegsartigen Auseinandersetzung zwischen palästinensischen Milizen und der jordanischen Armee, und an all dem Leid verzweifelt. Ein Film, der eine traurige Aktualität hat. Und mit dem die 65-Jährige ein politisches Zeichen setzt. Aber er bringt vor allem ihre Persona auf den Punkt: Ein Wesen, nicht ganz von dieser Welt.