Essen. Ein beseelte, treppenreiche Reise durch Raum, Zeit und Klang im Industriebeton. Mit Musik von Bruckner und Björk sowie dem Chorwerk Ruhr.

„Der See träumt zwischen Felsen
Es flüstert sanft der Hain
Den Bergeshang beleuchtet
Des Mondes Silberschein

Wer könnte je vergessen
Den wonnevollen Ort“.

Das stimmungsvolle Gedicht „Abendzauber“, einst von Heinrich Wallmann für Anton Bruckner und bewusst im Stil Joseph von Eichendorffs geschrieben, begleitet bei der Ruhrtriennale das Publikum bei seinem langen Aufstieg rauf zur obersten Ebene der Mischanlage in der Kokerei Zollverein. Für die Musiktheater-Installation „Abendzauber“, für diese beseelte Reise durch Raum, Zeit und Klang sind zunächst zahllose Treppen und Engpässe zu bewältigen. Da ist festes Schuhwerk angeraten und nein, barrierefrei ist diese Produktion leider nicht.

Musik, Tanz und tiefere Bedeutung in der Mischanlage der Kokerei Zollverein: „Abendzauber“.
Musik, Tanz und tiefere Bedeutung in der Mischanlage der Kokerei Zollverein: „Abendzauber“. © © Christian Palm | Christian Palm

Oben angelangt, macht das Bild „Abendliche Landschaft mit zwei Männern“ von Caspar David Friedrich vollends klar: Auf der ersten der drei Stationen begegnen wir noch einmal der Romantik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts oder besser: jenem wonnevollen Ort, der die Natur einmal war.

„Abendzauber“ der Ruhrtriennale auf Zollverein mit dem Chorwerk Ruhr

Chorwerk Ruhr und Krystian Lada (Regie, Bühnenbild) bringen zwei grundverschiedene Musikstile grandios zusammen. Da sind die selten aufgeführten weltlichen A-cappella-Chorwerke von Anton Bruckner, deren romantischer Ausdruck durch die Poesie der Texte verstärkt wird und die uns zurückblicken lassen auf eine Zeit, in der die körperliche und emotionale Erfahrung der Natur etwas Selbstverständliches war. Dagegen stehen die avantgardistischen Songs der isländischen Sängerin Björk, die in vielen Liedern die geschundene Natur selbst sprechen lässt.

CHORWERK RUHR Performance: DOMINIK WIĘCEK Alexander Lüken und Sebastian Breuning dirigieren, Krystian Lada ist für Konzept, Regie, Design verantwortlich. Die Choreografie stammt von Dominika Knapik, die Musik-Arragements haben Caroline Shaw und Marc Schmolling besorgt.
CHORWERK RUHR Performance: DOMINIK WIĘCEK Alexander Lüken und Sebastian Breuning dirigieren, Krystian Lada ist für Konzept, Regie, Design verantwortlich. Die Choreografie stammt von Dominika Knapik, die Musik-Arragements haben Caroline Shaw und Marc Schmolling besorgt. © © Christian Palm | Christian Palm

Die acht gläsernen Vitrinen voller Zweige, Blätter, Triebe, Blüten auf der obersten Ebene sind nicht mehr als Erinnerungsstücke, Museums-Panoramen. Hier versammelt sich ein Männerchor, gekleidet in Bergmanns-Uniformen, zu Bruckners „Ständchen“:

„Wandle froh durchs Leben weiter,
Frei von Kummer und von Leid.
Jeder Tag beginne heiter
Und entflieh‘ mit Seligkeit“.

Es ist nicht das einzige Mal, dass die Produktion – bei der sich das Publikum kontinuierlich durch die verschiedenen Ebenen der Mischanlage bewegt und alle 25 Minuten eine neue Gruppe eingelassen wird – unausgesprochen Bezüge herstellt. Die Mischanlage, einst gebaut, um die Natur zu zähmen und aus ihr Kapital in Gestalt von Kokskohle zu schlagen, ist längst selbst zum traurigen Denkmal aus Beton und verrostetem Metall geworden. Wenn sich der phänomenale Chor der Bergleute schließlich um die Vitrinen schart, wenn alle Hände den „Schrein“ berühren, dann wird Bruckners „Um Mitternacht“ zum ergreifenden Abschiedsgebet.

„So tönet oft das stille Läuten,
Doch ich versteh‘ die Weise nie,
Und nur mitunter möcht‘ ich’s deuten,
Als wär’s der Kindheit Melodie.“

Krystian Lada verzichtet in seiner Installation, die dem Einfluss des Menschen auf die Natur nachspürt, auf Erläuterungen oder Kommentierungen. Was allein spricht, ist die Musik gewordene Poesie, ist die Architektur und Geschichte der Industrieanlage, sind die ausgelösten emotionalen Reaktionen und individuellen Assoziationen des Zuschauers. Vor allem auf der zweiten, oft stockfinsteren Station, wenn Nebel, Industriegeräusche, Strahler oder Stroboskoplichter die zeitlupenhaften Bewegungen rätselhafter Vermummter akzentuieren, sind den Empfindungen und Interpretationen bewusst keine Grenzen gesetzt.

Der „Abendzauber“ der Ruhrtriennale auf Zollverein mit Bruckner und Björk endet im Heute

Die Reise endet im Heute, in einem geradezu apokalyptischen Szenario. Giftige Nebel wabern über ein gewaltiges Wasserbecken, nackte Menschen sind der Brühe hilflos ausgeliefert. Wenn dann die wunderbaren Sängerinnen des Chorwerks Ruhr, mit Gummistiefeln angetan, das Bassin betreten, schlägt die Stunde von Björk, und die Natur beklagt sich und ihre in traurigem Boden begrabenen Wurzeln selbst („Sorrowful Soil“).

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Doch vielleicht hat dieses Giftbecken auch reinigende Wirkung. Wenn zum Schluss der Chor einen Kreis bildet und die Arme gen Himmel reckt, dann macht das irgendwie Hoffnung. Vielleicht ist der Aufstieg auf eine neue Bewusstseinsebene, auf eine neue Stufe des Mensch-Seins doch noch möglich.

„Abendzauber“. Mischanlage, Kokerei Zollverein
Kokereiallee 71. Termine: Die heutigen Vorstellungen sind sämtlich ausverkauft. Für Sonntag, 25. August, gibt es noch Karten um 15:25, 15:50 und 19:55 Uhr (34 Euro, erm. 17 Euro=.