Essen. Zeitgenössischer Tanz trifft bildende Kunst: Anne Teresa De Keersmaekers Compagnie Rosas bespielte für „Y“ die Räume des Museums.
Y (= why = warum) – so der Titel der Veranstaltung im Museum Folkwang. Anne Teresa De Keersmaeker, Choreografin und Gründerin der Compagnie „Rosas“ deren Tänzer dort gleich die Räume bespielen werden, macht gleich im Vorgespräch klar, dass Reflektieren und Fragenstellen nicht nur Basis ihres künstlerischen Schaffens ist, sondern – in ihren Augen – das moralische Gebot der Stunde.
Ausgangspunkt ist daher nicht zufällig Édouard Manets Porträt des Sängers Jean Baptist Faure in der Rolle des Hamlet. Und damit sind wir nicht nur bei der Frage aller Fragen („Sein oder Nichtsein“) angelangt, sondern auch mittendrin im Dialog der Künste: Zeitgenössischer Tanz trifft auf bildende Kunst. Anders als bei vergangenen Projekten (z.B. in der Londoner Tate Modern oder im Pariser Louvre) hat De Keersmaeker hier die Objekte in Zusammenarbeit mit Antonina Krezdorn (Folkwang Museum) und Lieze Eneman (Rosas) selbst zusammengestellt und den Gemäldekanon um Skulpturen und Fotografien erweitert.
„Y“ von Anne Teresa De Keersmaeker: Gemälde von Manet und Paul Klee
Ein Strukturmerkmal ist die Hängung von abstrakten Gemälden unmittelbar neben oder gegenüber einem gegenständlichen Äquivalent. Man sieht etwa Paul Klees Feuer im Mondlicht gleich neben Manets Granatenexplosion und staunt, wie die abstrahierten Formen des einen die konkreten Figuren des anderen zu spiegeln scheinen. Nicht anders bei Rothkos ockerlastiger Flächenkomposition neben Caspar David Friedrichs Frau vor der untergehenden Sonne – und nicht zuletzt beim Hamlet selbst, dem der durch schwarzgrundige Strukturen angedeutete Prometheus von Barnett Newmans gegenüberhängt: Die Schätze der ständigen Sammlung erscheinen in völlig neuem Licht.
Gebannte Aufmerksamkeit bei den zufällig im Raum verteilten Zuschauern, als drei Tänzer mit exakt geometrischen Linien folgenden Bewegungen die Performance eröffnen. Später verteilen sich die Tänzerinnen und Tänzer über die Räume, Synne Elve Enoksen durchschneidet nun allein den Raum in messerscharfer Präzision mit dem Fechtkampf nachempfundenen Bewegungen, während nebenan Nassim Baddag mit atemberaubender Breakdance-Akrobatik die Parallelen zwischen Caspar David Friedrichs (hier in der Kopie von Carl Gustav Carus zu sehen) Hochgebirge und den Diagonalen von Morris Louis’ Ksi herausarbeitet.
Ruhrtriennale: Die Stufen des Wahnsinns bei Anne Teresa De Keersmaeker
Eingehüllt in eine Wolke aus Klang (Alain Franco) bewegt man sich durch die Räume. Zwischen elegischer Klassik, angereichert mit Einsprengseln aus Pop und Punk sowie einigen bedeutungsschweren Sprachsequenzen (Heiner Müllers Hamletmaschine durfte hier natürlich nicht fehlen), hört man Schreie und Stöhnen der Performerinnen und Performer aus den angrenzenden Bereichen: Es wird nicht nur die Hamletfrage wieder und wieder zitiert, es werden auch sämtliche Stufen des Wahnsinns durchexerziert.
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Teilweise konfrontieren die Künstlerinnen und Künstler die Zuschauer durch unmittelbaren Blickkontakt, in anderen Räumen entäußern und entkleiden sie sich, krümmen sich in Agonie vor den leidenslastigen Plastiken von George Minne und Georg Kolbe oder zeigen aktivistische Körpersprache vor den wandfüllenden Fotografien von The Archive of Public Protest (der Name ist Programm) und Oliviero Toscanis ikonischen Werbe-Provokationen, mit denen in den 80ern ein italienischer Bekleidunghersteller um Aufmerksamkeit buhlte.
Das Tanztheater „Y“ bei der Ruhrtriennale: So viele Eindrücke, so viele Fragen
Die Synchronizität ist Teil des Konzeptes: Der Zuschauer muss sich immer wieder neu entscheiden, welcher Performance er folgen will, während ihm anderes entgeht. So viele Eindrücke, so viele Fragen. Bisweilen lockt der Klang auch in einen leeren Raum, in dem nur noch die zurückgelassenen Kleidungsstücke von der gerade stattgefundenen Performance zeugen. Einmal ertönt aus der Klangcollage für ein paar Takte das Erlösungsmotiv aus Wagners Götterdämmerung. Plötzlich allein mit Caspar David Friedrich und Mark Rothko drängt sich der Betrachterin Dostojewskis These auf, dass letztlich nur „die Schönheit die Welt retten wird“.