Essen. „Der Text ist meine Party“ seziert eine der bedeutendsten Musikszenen Deutschlands. Über die ebenfalls angelaufene Doku gibt es Streit.
Tocotronic hat es geahnt. „Ich bin neu in der Hamburger Schule / Und vielleicht komm‘ ich hier nie wieder raus“, mutmaßte ihr Sänger Dirk von Lowtzow 1995 selbstironisch auf dem Album „Nach der verlorenen Zeit“, dem zweiten seiner Band – und tatsächlich fällt bis heute meist als erstes der Name Tocotronic, wenn von dieser Hamburger Schule die Rede ist. Die lose Musikbewegung, die sich grob zwischen Ende der 80er- und Mitte der 90er-Jahre vor allem in Hamburg abspielte, hat die deutschsprachige Popmusik revolutioniert – und doch kennen viele Menschen bis heute allenfalls das Schlagwort, vielleicht noch Bands wie eben Tocotronic, Blumfeld oder Die Sterne (die „großen drei“ der Szene, denen der kommerzielle Durchbruch gelang), danach ist meistens Schluss.
Wie viel mehr hinter dem Begriff steckt, dokumentiert Jonas Engelmann in seinem neuen Buch „Der Text ist meine Party – Eine Geschichte der Hamburger Schule“. Präzise zeichnet er nach, wie ab Mitte der 80er in Hamburg eine junge Musiker-Generation aufeinandertraf. Viele waren vor der Enge der Vororte und der Provinz geflohen, wo sie mit Punk und Do-it-yourself-Ethos sozialisiert worden waren. Nun suchten sie nach einem eigenen künstlerischen Ausdruck, jenseits von platter Chartstürmerei, mit Haltung, irgendwo zwischen Indierock, Punk und Pop. Oft landeten sie bei einer eigenwilligen deutschen Sprache – eine kleine Sensation, nachdem sich die Neue Deutsche Welle zügig an die Dösigkeit des Schlagers verkauft hatte und der musikalische Zeitgeist längst wieder Englisch sprach.
„Der Text ist meine Party“: Die Hamburger Schule ist mehr als vergeistigte Wortkunst
Schon diese Deutschsprachigkeit, unbestritten das herausragende Kennzeichen der Hamburger-Schule-Bands, stellt sich bei Engelmann als vielschichtig heraus: Vom Hip-Hop inspiriertes Sprechsingen passierte parallel zu privat-politischen Beobachtungen, aufrührerischen Slogans und intellektuell dekonstruierten Sprachfragmenten. Aber auch sonst zeichnet er die Hamburger Schule als unscharfen, heiß diskutierten Begriff: Viele Beteiligte lehnten ihn als findige Marketing-Zuschreibung grundsätzlich ab. Als Genrebezeichnung war er so geläufig wie untauglich, da die Bands zwischen Punk, Indie, Northern Soul, Funk und Pop viel zu unterschiedlich klangen. Als Schlagwort für ein damals existierendes Musiker-Netzwerk und musikalisches Ökosystem aus Bands, Studios, Kneipen und Labels wie L’Age D’Or oder Buback wiederum nutzte er allen. Und manche verstanden ihn auch als komplexe Geisteshaltung wider den Mainstream.
Diese Ambivalenz und Widersprüchlichkeit transportiert Engelmann erfolgreich, indem er sein Werk quasi als Innensicht anlegt: 30 Interviews hat er mit Szeneangehörigen geführt, zudem etliche weitere O-Töne aus anderen Quellen hinzurecherchiert. Stellenweise wechselt das Buch ganz zur Form der „Oral History“, zu einem unkommentierten Sprechenlassen der Protagonisten. Aber auch die restlichen Passagen lesen sich dank ausführlicher Zitate wie eine vielstimmige Selbstanalyse der Szene.
Mehr Kulturgeschichte als Musikhistorie
Punktuell kippt die Erzählung des studierten Literaturwissenschaftlers Engelmann etwas ins Soziologische, das stört aber kaum bei einer Bewegung, deren Bezeichnung nicht zufällig an die Frankfurter Schule der Philosophen Adorno und Horkheimer erinnert. Insgesamt ist „Der Text ist meine Party“ eher eine Kulturgeschichte als eine Musikhistorie geworden, der Autor federt das jedoch gekonnt ab, indem er zwei größere Textblöcke prägenden Akteuren wie Die Braut haut ins Auge, Bernd Begemann, Kolossale Jugend oder Huah! sowie deren wichtigen Alben widmet.
Am Schluss hätte noch mehr dazu stehen können, wie die Hamburger Schule einer neuen Generation deutschsprachiger Künstler wie Kettcar, Tomte oder Wir sind Helden den Boden bereitet hat. Etwas näher hätte Engelmann zudem auf den spannenden Widerspruch eingehen können, dass die Hamburger Schule Machismo ablehnte, aber trotzdem kaum Frauen im Rampenlicht standen. Wer mehr dazu wissen will, greift zum Interviewband „Lass uns von der Hamburger Schule reden“ von 2011, der das Geschehen aus weiblicher Sicht schildert. Generell aber darf „Der Text ist meine Party“ als das neue Standardwerk über die Hamburger Schule gelten, das das Phänomen in seiner Breite erfasst, sinnvoll strukturiert, aber nicht verengt.
Das Buch sorgt dabei ebenso für Diskussionen wie die zeitgleich erschienene NDR-Dokumentation „Hamburger Schule – über den Kiez in die Charts“. Seit Wochen tobt in sozialen Medien ein Streit darum, wer sich der Hamburger Schule nun angehörig fühlen darf und wer nicht.