Essen. Das neue Kettcar-Album „Gute Laune, ungerecht verteilt“ blickt auf eine politisch ungemütliche Gegenwart – spendet aber auch Hoffnung.
Kettcar war schon immer eine Band aufmerksamer Beobachter. Während die ersten beiden Alben der Hamburger vor allem innere emotionale Schlachtfelder und das Zwischenmenschliche kartografierten, gewann ihr meist freundlich fließender Indie-Poprock ab der dritten Platte „Sylt“ (2008) nicht nur mehr Kanten und Varianz, sondern auch eine politische Dimension. Frontmann Marcus Wiebusch und seine Kollegen verorteten sich immer öfter in gesellschaftlichen Zu- und Missständen, entblößten zwischen Liebes- und Leidensliedern mit Songs wie „Geringfügig, befristet, raus“ oder „Schrilles buntes Hamburg“ einen erbarmungslosen Kapitalismus. Das fünfte Album „Ich vs. Wir“ präsentierte die Band 2017 schließlich politischer denn je: Sozialer Kälte, zynischem Egoismus und immer unverhohlenerer Menschenfeindlichkeit stellte die Band eine Idee von Gemeinschaft und Miteinander entgegen. Und beendete das Album mit dem Appell, man solle sich trotz der Hochkonjunktur von Hass und Hetze „von den verbitterten Idioten nicht verbittern lassen“.
Sieben Jahre später hat Kettcar für das neue, sechste Album „Gute Laune, ungerecht verteilt“ wieder genau auf die Verhältnisse geschaut, und zunächst scheint es, als hätte die Band ihren Ratschlag von damals nun selbst nötig: Der erste Song „Auch für mich 6. Stunde“ fängt schon mit seinem titelgebenden Lehrerspruch die Gereiztheit, Überforderung und Erschöpfung ein, mit der unsere Gesellschaft derzeit ringt. Und dann setzt Marcus Wiebusch an, stellt im Sprechgesangs-Stakkato einer einst stolzen Spezies ein moralisches Armutszeugnis aus: Feuer, Rad, Zivilisation – „Und jetzt schreien sie ‚Absaufen‘ in Dresden / Am helllichten Tag“. Das klingt düster, fast resigniert. Auch für Kettcar ist 2024 sechste Stunde.
Mit „Gute Laune, ungerecht verteilt“ weckt Kettcar Hoffnung
„Ich mache schon seit den 90ern politische Musik – und in meiner Wahrnehmung war’s noch nie so verrückt wie heute“, sagt Marcus Wiebusch, der damals die gefeierte Szene-Punkband …But Alive anführte, über die Stimmung im Land. „Dass einen alles überfordert, dass man von Krise zu Krise stolpert und gar nicht mehr zur Ruhe kommt. Und dass man das Gefühl hat, es wird monatlich immer schlimmer.“
Doch obwohl „Gute Laune, ungerecht verteilt“ an vielen Stellen den Zeitgeist in schonungsloser Klarheit einfängt, ist die große Klammer des Albums eine andere: Hoffnung! Selbst in „Auch für mich 6. Stunde“ – dessen Arbeitstitel bezeichnenderweise „Hope“ lautete – ist im Refrain die Rede von einem „Bengalo in der Nacht“ – die Fußballfans Kettcar haben zwar auch keine Lösung, hoffen aber weiterhin auf irgendetwas von Strahlkraft, das die Menschen wieder zusammenführt. Das sollte man nicht als weltfremde Hippie-Träumerei missverstehen, das ist Zweckoptimismus, zu dem es keine Alternative gebe.
Kettcar: Lärmiger Punkrock erzählt von Alltagsrassismus und den NSU-Morden
Nur manchmal fällt die Analyse auf „Gute Laune, ungerecht verteilt“ so bitter aus, dass kein Platz für einen Silberstreif am Horizont ist. Etwa in der ersten Vorabsingle „München“ (aus der Feder von Kettcar-Bassist Reimer Bustorff), die mit unruhig aufgewühltem Punkrock eine direkte Linie vom Alltagsrassismus der Frage „Wo kommst du eigentlich her?“ zu den NSU-Morden zieht, deren Tatorte im zugehörigen Musikvideo zu sehen sind. Oder in „Blaue Lagune, 21:45 Uhr“, einem Sozialdrama aus der Hochhaus-Siedlung im Schnelldurchlauf, das zur einsamen Akustikgitarre das Ende offenlässt, weil man ohnehin weiß, wie diese Geschichten in der Regel ausgehen.
Meist aber strahlen die Songs allen Widrigkeiten zum Trotz noch Zuversicht aus. „Doug & Florence“ – benannt nach TV-Serien-Paketzusteller Doug Heffernan und Krankenpflege-Reformerin Florence Nightingale – entlarvt zwar zum rumpelig leiernden Flaming-Lips-Sound die neoliberale Lüge vom „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Im Refrain aber wagt der Song einen utopischen Schlachtruf: „Paketzusteller / Of the World unite / Unite and take over“. Das ist nicht realistisch, aber als klassenkämpferische Fantasie immerhin tröstlich. Und außerdem geschmackvoll bei „Shoplifters of the world unite“ von The Smiths geklaut. „Mein politisches Weltbild ist sehr stark davon geprägt, dass wir eine Gesellschaft von den Schwächsten her denken“, sagt Wiebusch, „neoliberale Zumutungspolitik“ lehne er ab.
Beschwingte Streicher untermalen bei Kettcar das „Einkaufen in Zeiten des Krieges“
Auch das leise-dramatische „Was wir sehen wollten“ (ebenfalls ein Bustorff-Song; ein Drittel der zwölf Stücke stammt von ihm) findet ein starkes Bild dafür, wie das Prinzip Hoffnung in den Menschen verankert ist: Zwei Betten im Krankenhaus, ein Blick aus dem Fenster, eine Lüge, mit der der eine den anderen aufrecht hält. Und „Einkaufen in Zeiten des Krieges“ zieht mit seinen feierlichen Streichern die hyperventilierende Überflussgesellschaft so wunderbar ins Lächerliche, dass auch der trockene Humor der Groteske zum Seelentröster wird.
Dazwischen gibt es die anderen, spitzeren Kettcar-Stücke, von denen „Gute Laune, ungerecht verteilt“ mehr enthält als frühere Platten. „Kanye in Bayreuth“ etwa widmet sich der komplexen und zuletzt viel diskutierten Frage, ob man Werk und Autor trennen kann und sollte, wenn Künstler sich mit Verfehlungen disqualifiziert haben. Wiebusch liefert keine einfache Antwort, sondern ein Gewitter der Zwischentöne. Sein dramatischer, schlagzeuglastiger Beinahe-Rap schickt In-Ungnade-Gefallene wie Michael Jackson, Woody Allen und Kevin Spacey diskursiv in Bayreuth „den grünen Hügel rauf“ – zum notorischen Antisemiten Richard Wagner, der bis heute weltweit gespielt wird. „Ich kann bestimmte Künstler nicht mehr hören, nachdem ich weiß, was für Arschlöcher das sind“, sagt Wiebusch. „Aber ich würde mir eher den Arm abhacken, als dir zu sagen: ‚Du hörst den jetzt auch nicht mehr.‘“
Auch das ist Kettcar: „Rügen“ und die Freude und Qual, Kinder zu haben
„Rügen“ wiederum knüpft vage an „Rettung“ von 2012 an, das im Kettcar-Textkosmos seinerzeit bereits den Übergang von durchfeierten Nächten zu partnerschaftlichem Glück andeutete: Ein Paar fährt ohne seine Kinder in den Urlaub – und erlebt das zwiespältige Gefühl, einmal die erdrückende Last der Verantwortung los zu sein und doch unmittelbar vom Vermissen überwältigt zu werden. Entscheidende Inspirationen waren dem zweifachen Vater Wiebusch zufolge die Komödie „Immer Ärger mit 40“ von Judd Apatow sowie ein berüchtigter Essay aus dem US-Magazin New Yorker von 2010. Dessen Titel: „Ich liebe meine Kinder. Ich hasse mein Leben.“
Am Schluss kommen das Private und Politische auf „Gute Laune, ungerecht verteilt“ nochmal grandios zusammen: Im sprechend betitelten „Brief meines 20-jährigen Ichs (Jedes Ideal ist ein Richter)“ entwirft der 55-jährige Wiebusch als Gedankenexperiment eine Anklage seines jüngeren Selbst. Es ist ein mitreißender Text, ungnädig und von enttäuschtem Kopfschütteln durchdrungen, von der Band zurückhaltend, aber zackig unterfüttert. Im Finale gibt es den einzigen, aber entscheidenden Moment, in dem ein Hauch Versöhnlichkeit aufblitzt: „In deinem gespielten Optimismus, den verschollenen Idealen / In jedem grauen Haar, in deinem Eigenheimsparplan / Dem Kitsch in deinen Texten, deinen Falten im Gesicht / Seh ich, du hast immer noch die gleiche Angst wie ich“. Das erwischt einen mit der emotionalen Wucht von Kettcar-Großtaten wie „48 Stunden“ oder „Balu“, rührt aber auch an die hochpolitische Frage nach dem „richtigen“ Leben im falschen. „Und du tust, was du musst / Und du hoffst, dass es langt“ – da ist sie wieder: die Hoffnung.
Das neue Kettcar-Album „Gute Laune, ungerecht verteilt“ erscheint beim bandeigenen Label Grand Hotel van Cleef.
Auf Tour kann man die Band an folgenden Terminen in NRW erleben:
8.4. Köln, Luxor (ausverkauft)
13.4. Oberhausen, Turbinenhalle 2 (ausverkauft)
19.4. Köln, Palladium
25.4. Bielefeld, Lokschuppen
22.6. Duisburg, Traumzeit Festival
16.8. Würselen, Burg Wilhelmstein