Essen. Jahresrückblick 2023: Der Handel strauchelt, auch beim Stahl läuft es nicht rund. Nur ein Stromriese meldet hohe Gewinne.
2023 ist das zweite Kriegsjahr in der Ukraine und auch das zweite Jahr in Folge, in dem die Verbraucherpreise ungewöhnlich stark steigen. Inflationsraten von acht Prozent und mehr machen das Leben immer teurer, lassen den Menschen immer weniger übrig zum Einkaufen und lähmen damit den gesamten Handel.
Sogar die Supermärkte und Discounter, in den Corona-Jahren noch die großen Gewinner, setzen preisbereinigt weniger um. Besonders hart trifft es erneut den Textil- und den Schuhhandel. Ein Laden, eine Boutique und eine Modekette nach der anderen geht pleite. Insolvenz meldeten neben vielen anderen Ketten in diesem Jahr der Düsseldorfer Modefilialist Peek & Cloppenburg (P&C), die Münchner Kette Hallhuber und der Schuhriese Reno an. Und einmal mehr die letzte große Warenhauskette Galeria Karstadt Kaufhof.
Für die Essener Kaufhauskette ist es nach der Insolvenz 2020 bereits die zweite binnen drei Jahren – und wieder bleiben Dutzende Filialen auf der Strecke: Von den rund 130 Häusern, mit denen Galeria diesmal unter den Schutzschirm des Insolvenzrechts geschlüpft ist, bleiben am Ende 91 übrig. Wie drei Jahre zuvor bleiben große Filialen in Essen und Dortmund, die schon auf der Schließungsliste standen, letztlich doch noch erhalten, die Beschäftigten erleben einmal mehr schlimme Wochen zwischen Hoffen und Bangen.
Das Handelsimperium des Milliardärs René Benko wackelt in seinen Grundfesten
Und damit ist es auch nach der im Sommer erneut überstandenen Insolvenz am Jahresende noch immer nicht vorbei. Denn die österreichische Muttergesellschaft Signa geht in die Knie, meldet Ende November in Wien Insolvenz an und droht etliche Tochterfirmen mit in den Abgrund zu reißen. Das mit mehr als 1000 Firmen weit verzweigte Immobilien- und Handelsimperium des Milliardärs René Benko wackelt in seinen Grundfesten.
Mit als erste erwischt es die deutsche Immobilientochter Signa Real Estate Management Germany und die Münchner Kette Sport Scheck. Sie gehört wie Galeria Karstadt Kaufhof auch zum Handelszweig Signa Retail Selection, die in Zürich sitzt. Und die Schweizer Signa-Tochter meldet ebenfalls Insolvenz an – in diesem Fall allerdings, um sich von der Mutter abzukoppeln und ihre Geschäfte selbst abwickeln zu können. Was das für die deutsche Kaufhaustochter Galeria heißt, wird ohne Umschweife mitgeteilt: Ziel sei es, die Beteiligungen „gut organisiert und in einem strukturierten Prozess über die nächsten Monate zu veräußern“, teilt Signa Retail Selection mit – Galeria soll also an einen neuen Investor verkauft werden.
Wie es weitergeht, ist ungewiss
Wie es weitergeht, ist für die noch rund 12.500 Beschäftigten einmal mehr ungewiss. Zumal Signa im Insolvenzplan Investitionen von 200 Millionen Euro in die Kaufhäuser zugesagt hatte, auf die man in Essen bisher vergeblich wartet.
Ein paar Kilometer weiter ist die Ungewissheit ebenfalls seit vielen Jahren heimisch – im Essener Hauptquartier von Thyssenkrupp. Nach einigen Krisenjahren und dem Verkauf des wertvollsten Tafelsilbers – der Aufzugssparte – steht 2023 einmal mehr die Frage im Mittelpunkt, wie es mit der Keimzelle des Unternehmens weitergehen soll: dem Stahl. Und diese Frage geht der neue Chef Miguel López mit einer Entschiedenheit und einem Selbstverständnis an, die für große Unruhe im Konzern sorgt.
Vor allem im Duisburger Norden, wo Thyssenkrupp Steel mit dem größten Stahlwerk Europas sitzt. Hier weiß man sich traditionell besonders gut Gehör zu verschaffen, was im Sommer zunächst dem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) galt. Er solle endlich die Zusage liefern für die staatliche Hilfe für die erste grüne Stahlproduktion. Und er lieferte: Die Umstellung von Kokskohle auf Wasserstoff als Energieträger bezuschussen Bund und Land mit insgesamt rund zwei Milliarden Euro.
Trotzdem ist auch hier zum Jahresende gar nichts mehr klar: Nachdem das Bundesverfassungsgericht den Klimafonds gekippt hat, ist mehr denn je fraglich, ob der Staat weitere Anlagen fördern kann – Thyssenkrupp bräuchte selbst noch mindestens zwei, die 50-Prozent-Tochter HKM im Duisburger Süden muss ebenfalls grün werden, um überleben zu können.
Beide plagt ebenso die offene Frage, wen sie künftig gehören. Thyssenkrupp-Chef López ist entschlossen, die Hälfte am Stahl abzugeben – an den tschechischen Milliardär Daniel Kretinsky. Die Arbeitnehmerseite ist nicht grundsätzlich dagegen, fühlt sich aber vom neuen Vorstandsvorsitzenden, der im Juni Martina Merz abgelöst hat, übergangen. IG Metall und Betriebsrat klagen über mangelnde Informationen und Absprachen.
Eklat im Thyssenkrupp-Aufsichtsrat
Anfang Dezember kommt es dann auch noch zum Eklat im Konzernaufsichtsrat: Der boxt eine Vergrößerung des Vorstands um zwei Mitglieder gegen den Willen der Arbeitnehmervertreter durch – Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm macht laut IG Metall von seinem Doppelstimmrecht Gebrauch. „Novum“, „Tabubruch“, „Kampfansage“ nennen das die Gewerkschafter. Zum ersten Mal in der Geschichte des Unternehmens seien Vorstände gegen die Ablehnung der Arbeitnehmerseite ins Amt gehoben worden. Dies sei eine Zäsur und zugleich auch eine Provokation.
„Die Anteilseigner haben sich damit von einem fairen Miteinander verabschiedet“, urteilt Jürgen Kerner, zweiter Vorsitzender der IG Metall und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender im Thyssenkrupp-Konzern. „Das Verhalten von Herr López bedeutet eine Herabwürdigung der Beschäftigten”, sagte er in Richtung des neuen Konzernchefs. Was das für das bisher bei Thyssenkrupp gepflegte Miteinander vor allem in der Stahlsparte im Zuge des geplanten Verkaufs bedeutet, bleibt offen.
Wenn das Jahr 2023 für einen Ruhrgebietskonzern gut gelaufen ist, dann für den Essener Stromriesen RWE. Der Dax-Konzern hob seine Prognose mehrfach an, wird seinen Nettogewinn jüngsten Hochrechnungen zufolge auf bis zu 3,8 Milliarden Euro hochschrauben. Das zusätzliche Geld will RWE vor allem in den Ausbau der erneuerbaren Energien stecken: Wie das Unternehmen Ende November ankündigte, will es nun 75 statt bisher 50 Milliarden Euro bis 2030 in Grünstrom, Wasserstoff und neue Speichertechnologien investieren. Vor allem mit Solarstrom und Meereswindparks will RWE weltweit wachsen.
Dass der für 2030 vereinbarte Ausstieg aus der Braunkohle dennoch in Gefahr ist, hat einen ganz anderen, sehr deutschen Grund: Dafür müsste und will RWE einige neue Gaskraftwerke bauen, die später mit grünem Wasserstoff laufen sollen – als Reserve, die einspringt, wenn die Sonne nicht scheint und kein Wind weht – und keine Kohle mehr verfeuert wird. Doch auf den gesetzlichen Rahmen, den Wirtschaftsminister Habeck für den Sommer versprochen hatte, wartet die Branche immer noch. Auch er hängt nun an der Frage, wie die Ampel ihre Haushaltslöcher stopfen will.
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