Düsseldorf. Mehr als Lützerath und Brückensprengung: 2023 war in NRW ein Jahr der Großkrisen, in dem mancher Aufreger nur vordergründig verschwand.
Die Schnelllebigkeit des landespolitischen Jahres lässt sich selten in nur einem einzigen Bild bannen, in dieser einen Szene, die uns bewusst macht, wie die Aufregerthemen in NRW nur so vorbeifliegen. Am Ende dieses wilden 2023 aber gelingt es ausnahmsweise. Man schaut auf das Foto eines riesigen Kraters im Rheinischen Braunkohlerevier, der einmal der Erkelenzer Stadtteil Lützerath war, und fragt irritiert: War da was?
Oh ja, noch im Januar 2023 war Lützerath bundesweiter Sammlungsort der Klimabewegung. Ein Symbol wie der „Hambacher Forst“. Mehr als 15.000 Menschen – die Veranstalter sprachen von über 35.000 – demonstrierten hier gegen die Zerstörung des Dorfes, das als letztes den riesigen Baggern weichen sollte. Eine Vereinbarung zwischen dem Energiekonzern RWE und den Wirtschaftsministern aus Bund und Land, Robert Habeck und Mona Neubaur (beide Grüne), hatten zwar den Kohleausstieg auf 2030 vorgezogen, die Kohleschichten unter Lützerath jedoch für unverzichtbar erklärt.
Die Polizei räumte ein über Monate von Aktivisten besetztes Protestcamp. Es gab hässliche Bilder. Aktivisten, die in einem vier Meter tiefen Erdloch angekettet ausharrten, bestimmten über bange Stunden die Nachrichten. Es wirkt am Jahresende alles furchtbar weit weg. Ebenso wie die Verehrung für die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg, die seinerzeit persönlich nach Lützerath reiste und heute wegen zweifelhafter Israel-Äußerungen im Nahost-Konflikt weltweit in der Kritik steht.
Verschwunden ist nicht nur das rheinische Protestdorf, sondern auch eine Problembrücke namens „Rahmede“ an der A45 nahe Lüdenscheid. Eine Aufnahme von der Sprengung des maroden und seit einem Jahr gesperrten Bauwerks schaffte es beim NRW-Pressefoto aufs Siegertreppchen. Es ist eine eigentümliche Ästhetik des Strukturverfalls. Früher faszinierten neue Bauwerke, heute das Zusammenbrechen alter. Der Durchgangsverkehr wird die leidgeprüften Anwohner in Lüdenscheid hingegen noch lange quälen.
Politische Aufarbeitung des Brückendesasters läuft an
Die politische Aufarbeitung des Brückendesasters hat im abgelaufenen Jahr auch erst begonnen. Ein Untersuchungsausschuss des Landtags beugt sich über das Kapitel verfehlter Verkehrspolitik – mit möglicherweise unangenehmen Folgen für Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Denn der Neubau der maroden A45-Talbrücke war bereits 2015 beschlossen, später jedoch in der Amtszeit des Verkehrsministers Wüst verschoben worden. Im Nachhinein hat sich dies als fatale Fehlentscheidung für eine der wichtigsten Verkehrsadern Deutschlands erwiesen. Wüst pocht darauf, dass es sich damals um eine rein fachliche Prioritätensetzung gehandelt habe, nicht um eine politische Entscheidung. Das wird nun unter Eid abgeklopft.
Wüst schien solchem landespolitischen Kleinklein zwischenzeitlich schon enthoben. Mit der Verleihung des NRW-Staatspreises an Altkanzlerin Angela Merkel reihte sich der ehemalige Jungkonservative aus dem Münsterland nicht nur demonstrativ in die Riege der mittigen „Merkelianer“ ein. Er setzte zugleich eine Spitze gegen seinen Parteichef Friedrich Merz, der eine andere Agenda verfolgt und Merkel seit 20 Jahren in inniger Abneigung verbunden ist. Da Wüst parallel auch noch in einem Interview aufreizend kundtat, er sei ja nur „aktuell“ in Düsseldorf gut beschäftigt, füllt die Union das Sommerloch mit der „K-Frage“.
Da die Ampel-Koalition in der zweiten Jahreshälfte weiter strauchelte und Merz sich mit sprachlichen Ausfällen zu „kleinen Paschas“, Wüsts grünem Koalitionspartner als „Hauptgegner“ und Zahnarztterminen von Flüchtlingen einfach selbst inflationierte, spielte die Musik schnell doch nicht mehr in Düsseldorf. Merz scheint nach Umfragen mittlerweile uneinholbar aufs Kanzleramt zuzusteuern. Tanzte Wüst nur einen Sommer? Ende 2024 wissen wir mehr.
Viele ratlose Bürgermeister in NRW
Energiewende, Altschuldenfonds, Flüchtlingskrise – die Haushaltskrise auf Bundesebene machte auf Landesebene viele Hoffnungen zunichte. Wüsts Evergreen „Der Bund muss handeln“ half ihm zwar politisch ein wenig aus der eigenen Verantwortung, brachte unter dem Strich aber keine substanziellen Verbesserungen. Gerade den Kommunen half der dauerhafte Fingerzeig nach Berlin nicht, denn wichtiger als die Schuldfrage ist ihnen die Lösung. Bei 224.000 Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und rund 1000 ankommenden Asylsuchenden pro Woche wussten viele Bürgermeister nicht mehr weiter.
Im Schatten der Großkrisen gingen die landespolitischen Alltagssorgen da fast ein wenig unter: das dramatisch schlechte Abschneiden der NRW-Schüler in Bildungsvergleichen, der eklatante Lehrermangel, die Schieflage der Kitas, der Anstieg der Kriminalität nach ruhigen Corona-Jahren, die marode Infrastruktur, die schwächelnde Ruhrwirtschaft.
Im gesellschaftlichen Reizklima des Jahres 2023 hat auch das Miteinander zwischen Regierung und Opposition in Düsseldorf gelitten. Die schwarz-grüne Mehrheit brach immer wieder mit parlamentarischen Gepflogenheiten und scherte sich wenig um die Befindlichkeiten von SPD und FDP. Die Stimmung im Landtag wirkt vergiftet wie nie, von „Arroganz der Macht“ ist plötzlich die Rede. In einer Zeit der Institutionenverachtung und allgemeinen Anfälligkeit für Hetzer ist solch eine Atmosphäre unter Demokraten nie gut.
Zum Jahresausklang hat Ministerpräsident Wüst zu einer „Allianz der Mitte“ aufgerufen und rief als Credo aus: „Führen heißt Zusammenführen.“
Vielleicht gelingt es ja 2024.
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