Düsseldorf. Vor der Düsseldorfer Mitsubishi Electric Hall gab es Proteste, drinnen gab es Jubel für einen zugenähten Mund und andere Tabubrüche.
Wer, um Himmels Willen, geht denn, außer Gegendemonstranten, noch zu Till-Lindemann-Konzerten, fragt man sich. In Düsseldorf lautete die Antwort am Freitagabend: Über 7000 Fans, die Mitsubishi Electric Halle ist fast ausverkauft. Und der Frauenanteil liegt bei gut 25 Prozent. Ganz bieder die einen, aufgebrezelt, manchmal mit Maximaldekolleté die anderen, die Halle ist aber auch verflixt gut geheizt. Oder wieder andere in Metal-Kutte, und Sozialversicherungsfachangestellte waren wohl auch etliche dabei. Der Typ mit dem „Lindemann“-T-Shirt guckt einen so grimmig an, als wolle er schon mal in die Vorwärtsverteidigung gehen. Dabei tragen hier Hunderte solche T-Shirts. Auf einem steht „Weiter, weiter ins Verderben, wir müssen lieben, bis wir sterben“. Deutsche Romantik 2.0. Hier ist kaum Jungvolk unterwegs, mehr so Mittelalter und ein paar ganz erfahrene Haudegen mit grauer Mähne.
Und nachdem Lindemann, für den nach wie vor die Unschuldsvermutung gelten muss, mit massivem Einsatz von Anwälten gegen die #MeToo-Vorwürfe vorgegangen ist, dürfte nicht für ihn so wichtig sein wie Normalität. Also geht er wieder auf Tour, nach dem Start in Leipzig ist Düsseldorf die zweite Station. Die beiden Vorbands Phantom Vision und Aesthetic Perfection spielen drei bis vier Ligen unter Lindemann, selbst wenn sie einen besseren Sound bekämen.
Till Lindemann solo, das ist so etwas wie die Taschenausgabe von Rammstein
Lindemann solo ist so etwas wie eine Taschenausgabe von Rammstein, also ohne Pyrotechnik, mit weniger Bühnennebel – und drei extrem spielfreudigen Frauen in der Band, was wohl eine gewisse Signalwirkung entfalten soll. Den untrüglichen Sinn für Provokation, für Tabus, die noch gebrochen werden können, hat sich Lindemann bewahrt. Nicht nur mit Großaufnahmen von Genitalschmuck samt seiner natürlichen Umgebung in XXL auf der Videowand. Da oben wird gleich zum Auftakt jemandem der Mund zugenäht und die Masse jubelt. „Altes Fleisch“ wird beschimpft, Sadomaso, Kannibalismus – mit allem, wovon andere sich mit Schaudern abwenden, wird hier gespielt: „Ich hasse Kinder“ hier, ein Loblied auf die Abtreibung dort.
Einmal ist Lindemann im Video zu sehen, wie er einer Frau eine Plastiktüte über den Kopf zieht – bevor er dann selbst unter einer um Luft ringt. Darunter rrrrrrollt der echte Lindemann, 60, in einem roten Zirkusdirektor-Aufzug, mit glänzenden Litzen Sätze wie „Mein Herrrz ist gebrrrrochen“; als er zu einem hallenweiten Zug durch die Fan-Gemeinde unten aufbricht, setzt er dazu auch noch einen roten Zylinder auf.
Mit Till Lindemann kein Spießer sein, wenigstens hier
Die mal englischen, mal deutschen Songs werden immer schon kurz nach dem Intro bejubelt, so vertraut sind sie den Fans. Denen geht es wohl um das Lebensgefühl der Provokation, wenigstens hier. Kein Spießer sein, wenigstens hier. Eine große Trotzgemeinschaft. Sie genießt die martialische Musik und den Rausch, den sie so zuverlässig erzeugt wie nur weniges sonst. Um 22.46 Uhr sagt Lindemann nach gut anderthalb Stunden lakonisch „Danke“ und verschwindet mit der Band, bevor der Zugabenteil beginnt.
Es war wohl die Vorhut für die Stadion-Tournee von Rammstein, mit vier (!) Konzerten in Gelsenkirchen.
Weitere Texte aus dem Ressort Kultur finden Sie hier:
- Merkel in Essens Oper: „My Fair Lady“ mit Einbürgerungstest
- Ausstellung: John Lennon und die 70er-Jahre in New York
- „Babylon Berlin“: Die vierte Staffel ist da – und sie lohnt sich
- Bausa-Konzert in Köln: „Meine Stimme ist echt am Limit“
- Erst Manager bei Evonik – jetzt Kinderbuchautor und Surfer