Essen. Kanzlerinnen-Double plus Einbürgerungstest – das ist „My Fair Lady“? Die Premiere im Aalto bürstet das Musical gegen den Strich. Unsere Kritik

Es war einmal eine Londoner Blumenverkäuferin namens Eliza. Die sprach so sehr im Gossenjargon, dass ein Gelehrter namens Higgins sie zum Versuchsobjekt machte: Marktweib zu Lady. Zentrale Hürden waren das Rennen von Ascot und ein Ball der oberen Zehntausend.

2023 ist Eliza eine Afrikanerin in Deutschland. Ihr Ziel: hier zu bleiben. Ihr Spracherzieher: ein Scheusal mit Vorliebe für Goethe. Zentrale Hürden für Eliza: die Ausländerbehörde und Bayreuths Wagner-Festspiele. So schaut’s aus, wenn das Aalto-Theater „My Fair Lady“ auf die Bühne bringt.

„My Fair Lady“ am Aalto-Theater. Migrantenschicksal wird Thema im Musical

Um es gleich zu sagen: Eines der erfolgreichsten Musicals alter Schule kommt in Essen ziemlich unter die Inszenierungsräder. Ilaria Lanzinos Aktualisierung ist aufdringlich druckvoll. Was aber trüber stimmt: Sie missdeutet die Geschichte gegen ihren ursprünglichen Geist. Plötzlich umweht das Stück eine rassistische Aura, die nie existiert hat. Wenn Professor Higgins das schüttere Deutsch der jungen Schwarzen „verludert und verlottert“, „ohne Scham“ oder „unästhetisch“ nennt, wandert der philologische Hochmut bedenklich Richtung Herrenrasse ab: unselig!

Dazu gibt es Unterstellungen, die Politikern mühelos Rücktrittsforderungen einbringen würden: Elizas Vater etwa geht auf offener Bühne eine Schein-Ehe mit einer tumben Blonden im Dirndl ein, bloß um den deutschen Pass zu kriegen. Aus dem Standesamt kommt er in Lederhosen, dann wird geschuhplattelt. Wer all das unter der Sparte Kabarett einsortiert, der meint es gut.

Seltsame Regie: Schein-Ehe, Schuhplattler, Einbürgerungstests

Andererseits: „My Fair Lady“ zählt zu den unkaputtbaren Werken des Genres. Sie übersteht auch diesen Zugriff. Zumal Lanzinos Regie listigerweise und als Gegenentwurf zur kalkweiß-kafkaesk konstruierten Ausländerbehörde, in der Nummern gezogen (und geschoben!) werden, die Snob-Welt von Higgins (Bühne/Kostüme Emine Güner) plüschig ausstatten lässt. Man denkt an TV-Shows der 1970er. Und in dem Stil erzählt sie dort auch; zentrale Szenen wie das endlich erreichte „ü“ in „Es grünt so grün“ sind samt spanischem Tänzchen völlig von der Stange inszeniert.

Wenige ergriffen schon in der Pause die Flucht, das Gros des Publikums blieb. Es sah auch den Besuch Angela Merkels, deren Bayreuth-Clique zum Lackmus-Test für Elizas Aufstieg wird. Freilich ist auch diese Übertragung schief. Elizas berühmter Ausraster „Ick streu dir Pfeffer in’n A….“ trifft im Original ein langsames Rennpferd. Hier fährt es ihrem Professor hintenrein. So pendelt der Abend zwischen brachial und bieder. Apropos bieder: Der alles entscheidende Diplomatenball entfällt im Aalto. Eliza brütet stattdessen über dem Einbürgerungstest, eskortiert von einem kreuzbraven Buchstaben-Ballett (Choreographie Till Nau), wie wir es seit Abschaltung des DDR-Fernsehens nicht mehr sehen durften.

Die knapp drei Stunden „My Fair Lady“ sind mal brachial, mal recht bieder

Es gab viel dankbaren Applaus, vielleicht auch, weil der letzte Intendant die Sparte Musical neun Jahre auf den Index gesetzt hatte. Das Ensemble schultert diesen Abend wacker. Die Südafrikanerin Mercy Malieloa ist eine Eliza mit Wut im Bauch und Gold in der Kehle, Gerry Hungbauer(3450 Folgen „Rote Rosen“) macht als Higgins bella figura à la Siegmund Freud, Rainer Maria Röhr eskortiert als Oberst Pickering wach, warmherzig und gar nicht altbacken. Tobias Greenhalgh (mal kein Tenor als Freddy) buhlt mit baritonalem Schmelz um Eliza. Der Chor: vorbildlich wendig, vokal wie szenisch. Und im Graben? Essens Philharmoniker kennen keine schlechten Abende. Und doch setzt der neue Kapellmeister Tommaso Turchetta zu sehr aufs Perkussive. Die zarten Passagen der Partitur Frederick Loewes geraten eher flächig, das ginge deutlich feingliedriger.

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KARTEN UND TERMINE

„My Fair Lady“, Aalto-Theater Essen. Knapp drei Stunden, eine Pause.

Nächste Termine: 8., 15., 19., 26 Oktober, 11., 25 November, 15., 20, 31. Dezember. Karten 16-55€, 0201-8122200