Berlin. Warum die Schweizer bei der EM 2024 von mehr als nur dem Viertelfinale träumen. Und was ein Burgfrieden damit zu tun hat.

Was die deutschen Fans können, können wir auch, werden sich die Anhänger der Schweizer Nationalmannschaft gedacht haben. Ihr „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ von den Rängen des Berliner Olympiastadions war mehr als nur von Euphorie gespeist.

Es folgte der langsam erwachenden Erkenntnis, dass die „Nati“ bei der Europameisterschaft noch viel mehr erreichen kann. Spätestens das 2:0 gegen Titelverteidiger Italien hat mehr Erwartungen geweckt, als die Mannschaft von Trainer Murat Yakin bislang erfüllt hat.

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Zugleich verpasste der Coach, der in der Schweiz selbst nie frei von Kritik war, in wenigen Tagen seiner eigenen Karriere einen ordentlichen Schub. Im Grunde genommen sind es zwei Säulen, auf denen der Schweizer Erfolg bei dieser EM fußt: der Burgfrieden mit Kapitän Granit Xhaka – und Schach.

Burgfrieden zwischen Trainer Yakin und Kapitän Xhaka hält

Noch im Vorfeld des Turniers, nach einem Remis gegen den Kosovo, kritisierte Xhaka öffentlich die Trainingsmethoden des Trainers. Inzwischen, so haben beide versichert, hätte man sich ausgesprochen. Yakin hatte so den wichtigsten teaminternen Faktor auf seine Seite bringen können.

Was das Schachspiel anbelangt: Nicht nur der – allerdings nur vom Papier her – überraschende Erfolg gegen den amtierenden Europameister hatte einen weiteren Taktikkniff als Grundlage. Denn Schach-Fan Yakin folgt, ähnlich wie auch Bundestrainer Julian Nagelsmann, einer einfachen Devise. Nicht die erlernte Position oder Erbhöfe bestimmen, wer in der Startelf steht, sondern die aktuelle Form.

Zum Auftakt gegen die Ungarn durfte Stürmer Kwadwo Duah überraschend sein zweites Länderspiel bestreiten. Zugleich agierte Mittelfeldspieler Michel Aebischer als Linksverteidiger mit dem Plan, immer in die Mitte zu ziehen. Beide trafen jeweils, und Ungarn staunte.

Schweizer Taktik macht auch dem DFB-Team zu schaffen

Gegen Schottland zauberte Yakin Xherdan Shaqiri für Duah in die Anfangsformation. Sein Traumtor zum 1:1 gehört in jeden EM-Rückblick. Und Kapitän Xhaka frohlockte: „Wieder mal ein super Plan von Muri.“

Ruben Vargas (r.) lässt sich für sein 2:0 gegen Italien feiern.
Ruben Vargas (r.) lässt sich für sein 2:0 gegen Italien feiern. © AFP | Ronny Hartmann

Schließlich folgt der Fast-Sieg gegen das deutsche Team. Und mit ihm eine taktische Meisterleistung. Die Konzentration, mit der die Schweizer die Passwege auf das DFB-Offensivduo Jamal Musiala/Florian Wirtz zustellten, war durchaus bemerkenswert. Ebenso bemerkenswert war, dass es der italienischen Mannschaft nicht mal im Ansatz gelang, die Taktik Yakins im Achtelfinale zu entschlüsseln. Wenn es etwas gab, mit dem die Azzurri Weltruhm erlangten, dann war es die besondere Gabe zu verteidigen.

Für Italien war es „ein Spiel des Zusammenbruchs“

Vor diesem Hintergrund darf das Aus gegen die Schweiz als Bankrotterklärung angesehen werden. „Es war das Spiel des Zusammenbruchs – aus physischer, taktischer und psychologischer Hinsicht. Die Azzurri haben nichts verstanden, angefangen beim Trainer“, ging die „Gazzetta dello Sport“ nicht zuletzt mit Luciano Spalletti hart ins Gericht.

Und es war wieder ein Kniff, der den Gegner aushebelte, weil sich Yakin bei der Wahl seiner Startspieler treu geblieben ist. „Ich wusste, wenn die Italiener mit einer Viererkette kommen, machen wir sie kaputt. Dann lassen wir sie laufen“, sagte Yakin hinterher. Seine Entscheidung, Fabian Rieder und Dan Ndoye auf den Flügeln spielen zu lassen, hatte er vor Anpfiff wie folgt erklärt: „Wir hatten zwei Optionen, eine defensivere und eine offensivere. Wir wollen vorne draufgehen und pressen, um Chancen zu kreieren.“

Schweizer Fans träumen schon vom Finale

Nach dem Sprung ins Viertelfinale sagte Yakin: „Es muss nicht unbedingt ein gelernter Außenverteidiger diese Position einnehmen, sondern einfach ein Spieler, der in Form ist. Ndoye hat das Mittelfeld zugemacht. Sein Gegenspieler Stephan El Shaarawy hat kaum einen Ball gesehen.“ Mission erfüllt.

Remo Freuler, Schütze des 1:0, bestätigte, welche Entwicklung die Spieler und der Trainer gemeinsam genommen haben: „Die Mannschaft harmoniert sehr gut. Das sieht man gut, wenn wir treffen und die ganze Bank jubelt.“

Und als ob das alles noch nicht genug wäre, machte Manuel Akanji die Demütigung der „Squadra Azzurra“ perfekt. Indem er für die Schweiz das herausstellte, was man eigentlich von den Italienern erwarten durfte. Nach dem schnellen 2:0 nur Sekunden nach Wiederbeginn „haben wir – abgesehen von einigen Missverständnissen – kaum etwas zugelassen und super verteidigt, die Flanken gut geklärt und dann sauber gekontert“.

Italienische Kernkompetenz in den Reihen einer taktisch gut eingestellten Mannschaft – kein Wunder, dass die Fans von einer weiteren Fahrt nach Berlin träumen. Zum Finale.

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