Willingen. Ingolf Schinze aus Willingen ist Brieftaubenzüchter und „ein bisschen crazy“. Seine Tiere hält er mit Elektrolyten und Badezusätzen fit.

Manchmal, sagt Ingolf Schinze, setzt er sich zwischen all seine Tauben, füttert sie aus der Hand, neckt sie ein bisschen, hört ihrem Flügelschlag zu. „Dann kann ich am besten entspannen und abschalten“, sagt er. Ein Hobby, mit dem er Geld verdiene, sei das nicht. Im Gegenteil. Berühmt wird damit wohl auch nicht. „Manche sagen, dass ich ein bisschen crazy bin“, sagt er. Vielleicht auch deshalb wohnt da tief in ihm drin die Vorstellung, mit seinen Lieblingen auf die große Bühne zu treten: der Traum von dem einen großen Sieg, von dem einen großen Scheck, von dem einen großen Auftritt.

Brieftaubenzüchter aus aller Welt beim Millionen-Euro-Rennen an der Algarve

Schinze, 45 Jahre alt, blondierte Strähnen, Lederkette um den Hals, ist Brieftaubenzüchter und gerade zurück aus Portugal, aus Monte Gordo. „Direkt an der Algarve, herrlich“, sagt er. Dort fand das sogenannte Golden Race statt, auch bekannt als Million-Euro-Race, weil unter den Besten 1,1 Millionen Euro ausgeschüttet werden.

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7500 Tauben von 1500 Züchtern weltweit treten gegeneinander an. Die Tiere sind schon im Frühjahr im Alter von vier bis sechs Wochen per Tiertransport nach Portugal entsendet worden, damit sie dort trainieren und heimisch werden können. Sonst würden sie den Weg zurück nicht finden. Wie lief es beim Saisonabschluss? „Ging so“, sagt Schinze, lächelt aber. Er rechnet ja nicht wirklich damit, dass ihm mal der ganz große Wurf gelingt.

Schon der Vater war Brieftaubenzüchter

Seit 30 Jahren macht er das jetzt schon, sein Vater hatte einst damit angefangen. 120 Brieftauben beherbergt Schinze in seinen beiden riesigen roten Taubenhäuschen in Willingen. In dem ganz neuen Bau gurren die Tauben, die in dieser Saison bei Wettkämpfen an den Start gehen. Jeden Tag trainieren diese für eine Stunde. In dem anderen befinden sich jene, die sich in Wettflügen verdient gemacht haben und nun zur Zucht dienen. Die Jungtauben haben einen eigenen Schlag.

Wie im Setzkasten: Die Tauben von Ingolf Schinze.
Wie im Setzkasten: Die Tauben von Ingolf Schinze. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Schinze öffnet die Tür zum älteren Taubenhäuschen aus Zeiten seines Vaters. An der Wand des Vorraums hängen Dutzende Bilder gleichen Motivs, gerahmt, hinter Glas, von Staub überzogen: Schinze mit den Größen der internationalen Brieftaubenzucht aus Belgien, Holland, Deutschland. „Hier, Günther Prange“, sagt er und deutet ehrfurchtsvoll auf ein Bild. Sein Finger wandert weiter nach oben: „Gebrüder Janssen.“ Das seien die Größen der Branche, wie Pelé oder Beckenbauer im Fußball. Und ganz nebenbei: Reich geworden durch ihre Brieftaubenzucht. Schinze sagt, dass die teuersten Brieftauben der Welt für 1,8 und 1,3 Millionen Euro verkauft worden seien. Die wertvollste, die er besitzt, schätzt er auf 5000 Euro. Ihr Name: Forrest 111.

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Kleinere, alte Pokale stehen auf einem Regal, Urkunden hängen an der Wand. Und Steckbriefe der Tauben, die ihm schon Erfolge einbrachten: Dolle 181, Oude 323, D’Artagnon, Napoleon.

In den vergangenen drei Jahren Jungtaubenmeister

Zwischen Mai und September sind jedes Wochenende Wettflüge in der Reisevereinigung Waldeck, zu der Gießen, Marburg, Korbach, Willingen, Medebach, Brilon, Olsberg und Marsberg gehören. Schinze ist Vorsitzender der RV Waldeck und Vorsitzender seines Klubs „Treu den Bergen Willingen“. Er ist am Wochenende immer dabei, wenn er kann. In den vergangenen drei Jahren war er jeweils Jungtaubenmeister. „Den Titel zweimal zu verteidigen, ist was Besonderes“, sagt er. 2021 war er sogar Meister mit den Jungtauben im Regionalverband Lahn/Eder. Sein größter Erfolg.

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Tauben haben einen sehr guten Orientierungssinn. Sie finden wie automatisch ihren Weg zurück zu dem Schlag, in dem sie geboren wurden oder als Jungtiere zu Hause sind. Bei Wettflügen werden sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort freigelassen und machen sich auf den Weg nach Hause. Wer es nach der Rechnung Zeit pro Strecke am schnellsten schafft, gewinnt. Bis zu 120 Kilometer pro Stunde sind möglich.

Brieftaubenwesen gehört zum Immatriellen Weltkulturerbe der UNESCO

Das Brieftaubenwesen ist 2022 zumImmatriellen Weltkulturerbe der UNESCOernannt worden. Schinze sagt, dass sie ihre Tauben lieben. Eines seiner Tiere sei 22 Jahre alt geworden, er habe es bis zum letzten Atemzug gepflegt wie einen Familienangehörigen. Die Tauben werden geimpft, damit sie nicht krank werden, und umsorgt wie Sportstars, damit sie ihre Leistung bringen.

Ein Mann und seine Tauben: Brieftaubenzüchter Ingolf Schinze an seinem Taubenschlag in Willingen.
Ein Mann und seine Tauben: Brieftaubenzüchter Ingolf Schinze an seinem Taubenschlag in Willingen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Sie erhalten spezielles Futter, wenn sie weite Flüge vor oder hinter sich haben: mal mehr Fettgehalt, mal Kohlenhydrate, Elektrolyte und Vitamine. Dort, wo Schinze das Futter anmischt, hängt ein genauer Futterplan an der Wand. Im Regal stehen Dutzende Flaschen und Fässchen: Immunbooster steht darauf oder Mineralmix, Atemfrei, Oregano-Schaffett, Moorgold, Hexenbier, Blitzform. Sogar Badezusätze gibt es. Bis zu 5000 Euro kostet ihn sein Hobby pro Jahr. „Die Natur des Vogels ist doch, dass er fliegt.“ Organisationen wie PETA oder der Deutsche Tierschutz-Bund üben indes Kritik (siehe Hintergrund).

Tauben finden den Weg von Wien nach Willingen

Jedes Jahr findet ein Wettkampf in Wien statt. Dorthin hat Schinze seine Tauben auch entsendet. Über 600 Kilometer sind es zurück nach Willingen. „Wenn man da gewinnt, wird man in der Dortmunder Westfalenhalle geehrt“, sagt Schinze. Im Rahmen der Deutschen Brieftaubenausstellung. „Mit schwarz-rot-goldener Schärpe.“ Der Gedanke gefällt ihm sichtbar.

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Aber da ist auch etwas, das darüber hinaus geht. „Das höchste der Gefühle ist, wenn man sich ausgerechnet hat, wann die Brieftaube zurück sein müsste - und sie dann tatsächlich zu diesem Zeitpunkt am Himmel zu sehen ist. Wie sie angeflogen kommt, die Flügel aufstellt wie ein Flugzeug im Landeanflug. Dieser Moment ist der schönste.“ Er ist aufrichtig beeindruckt von der Leistung der Tiere.

Brutale Nachwuchssorgen bei den Brieftaubenzüchtern

Schinze weiß auch, dass das nicht mehr vielen so geht, dass sich heute niemand mehr ein Hobby zulegt, um das man sich jeden Tag im Jahr kümmern muss. Seine Tochter ist im Teenager-Alter, sie schickt sich nicht unbedingt an, die Familientradition fortzuführen. „Wir Brieftaubenzüchter haben brutalste Nachwuchssorgen“, sagt Schinze.

Wenn er erzählt, dass er einer ist, hielten ihn manche für einen komischen Kauz, sagt er. „Aber das ist eben mein Hobby. Wie Fallschirmspringen.“

<<< HINTERGRUND >>>

Tierschutz-Organisationen stehen dem Brieftaubenwesen kritisch gegenüber. Hauptkritikpunkte sind laut dem Deutschen Tierschutzbund: die Instrumentalisierung der Tauben als Sportobjekt, oftmals tierschutzwidrige Haltungs-und Zuchtbedingungen, Transport und Wettflüge basieren auf Stress und enden oftmals tödlich.

„Brieftauben müssen bei Preisflügen weite Distanzen – teilweise bis über tausend Kilometer – zurücklegen, welche die Tiere an ihre Leistungsgrenzen bringen“, sagt Katrin Pichl, Fachreferentin für Wildtiere beim Tierschutzbund. Peter Höffken von PETA Deutschland fordert „ein Verbot von Taubenwettflügen in Deutschland“. Studien gäben Verlustraten bei Wettflügen von rund 50 Prozent pro Saison an. Gründe: Dehydration, Erschöpfung, Angriffe von Greifvögeln.