Eisenhüttenstadt/Duisburg. Der Mauerfall vor 25 Jahren war für den deutschen Osten ein wirtschaftlicher Schock, auch für die Stahlarbeiter in Eisenhüttenstadt. Wir waren vor Ort, um zu schauen, wie sich die Industrie auf die neuen Bedingungen eingestellt hat – und wo die Parallalen zu Duisburg liegen.
Die Lindenallee, ein breiter Boulevard im Zentrum Eisenhüttenstadts, führt schnurgerade zum Werk von Arcelor-Mittal. Über einem Tor prangt noch der Schriftzug „EKO Stahl GmbH“ – ein Relikt aus einer anderen Zeit. 1951 wurde hier der Grundstein für den ersten Hochofen gelegt.
Gleichzeitig beschloss die SED den Aufbau einer Planstadt, in der alle sozialistischen Ideen von Leben und Arbeit verwirklicht werden sollten. „Die Städte werden in bedeutendem Umfang von der Industrie für die Industrie gebaut“ lautete einer der Grundsätze für die Entstehung einer sozialistischen Stadt. Also wurden in Eisenhüttenstadt Siedlungen für rund 30 000 Menschen gebaut, in Spitzenzeiten lebten dort mehr als 50.000 Einwohner. 12.000 von ihnen arbeiteten in dem Volkseigenen Betrieb, der überwiegend Stahl für die DDR produzierte.
Jahrzehnte prägte das Kombinat das Leben in der Stadt. Mit dem Fall der Mauer vor 25 Jahren änderte sich alles – für die Arbeitnehmer und die Stadt. Inzwischen sind die Eisenhüttenstädter Teil des Weltkonzerns Arcelor-Mittal, der auch in Duisburg ein Werk betreibt. Sie müssen sich am Markt behaupten. Unterwegs auf den Spuren des industriellen Strukturwandels.
Am Reißbrett geplant, die Straßen parallel
Verlaufen kann man sich in Eisenhüttenstadt kaum. Die breiten Straßen, am Reißbrett geplant, verlaufen alle parallel. Die Hauptstraße gleicht einer Promenade, entlang der wichtigen Route wurde auf aufwändige Architektur mit klassizistischen Elementen geachtet. Die Fassaden sind frisch saniert.
Ein bisschen wirkt Eisenhüttenstadt wie ein künstlich geschaffener Ferienort. Es gibt ein paar kleinere Geschäfte, die großen Discounter haben sich außerhalb der Wohnquartiere angesiedelt. Vor den Häusern an der Eichendorffstraße stehen Gerüste, in den Zimmern dahinter wird gebohrt und gehämmert. Die Bauarbeiter schlagen Kohleöfen aus den Wohnungen, renovieren Bäder, verpassen den Bleiben ein modernes Antlitz. Es ist ein Versuch, neue Leute in den brandenburgischen Ort an der polnischen Grenze zu locken. 6000 Wohnungen wurden in den vergangenen Jahren abgerissen.
Die, die bleiben, wollen sie verschönern und bewahren. Die vier ersten Wohnkomplexe stehen längst unter Denkmalschutz als beispielhafte DDR-Architektur. Reisegruppen kommen, schauen sich die Wohnhöfe samt Grünanlagen. Der Rundgang endet im Museum für DDR-Alltagskultur, in der typische Gegenstände des Ostens ausgestellt sind. Tragetaschen aus „Plaste“, Geschirr, ostalgische Dekoration.
Eisenhüttenstadt hat Einwohner verloren
Dennoch hat Eisenhüttenstadt viele Einwohner verloren. Knapp 28.000 Einwohner zählt die Stadt derzeit. Die Leute zogen weg, weil es keine Jobs mehr gab. Neue Bürger kommen selten – und wenn, wollen sie am liebsten im Einfamilienhaus leben. Doch für diese Siedlungsform wurde erst in den vergangenen Jahren Flächen zur Verfügung gestellt. „Immerhin habe ich neulich 360 Neubürger begrüßt“, betont Bürgermeisterin Dagmar Püschel. Ihr ist es ein Anliegen, jeden Neuen persönlich kennen zu lernen. Doch auch die Linke muss feststellen, dass sich die Stadt verändert hat.
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„So ein schockartiges Ereignis wie die Wende führt dazu, dass völlig neue Rahmenbedingungen gelten“, erklärt Prof. Heiner Monheim, der sich mit dem Strukturwandel in den verschiedenen Regionen Deutschlands befasst hat . Anders als im Westen, wo sich der Wandel schleichend vollzieht, lag die Entwicklung in den neuen Bundesländern schnell auf der Hand. „Wer zu den Verlierern gehörte, wusste schnell, dass es nicht weitergeht.“ Das Schließen der Industriebetriebe im Westen sei hingegen ein „Tod auf Raten“ gewesen, oft verbunden mit der Hoffnung, dass es doch noch irgendwie weitergehe. „Subventionen führen dazu, dass Dinge, die schon zum Scheitern verurteilt sind, noch eine Weile am Leben gehalten werden“, sagt Monheim.
Andererseits: Dass ihre Stadt von öffentlichen Geldern profitierte, weiß die Bürgermeisterin Eisenhüttenstadts, Dagmar Püschel. Sie will sich nicht auf eine Diskussion über die Zukunft des Soli einlassen. Stattdessen sagt sie eher diplomatisch: „Wir müssen über eine grundsätzlich neue Finanzierung der Kommunen nachdenken, damit sich Weststädte nicht für Oststädte verschulden – und wo auch freiwillige Leistungen, die eine Stadt lebenswert machen, berücksichtigt werden.“
Wie Duisburg den Strukturwandel erlebt
Der Duisburger Heiner Maschke würde sich trotzdem über mehr öffentliche Zuwendungen freuen. Seit 1999 ist er Chef der Entwicklungsgesellschaft Duisburg, die sich etwa um die Umgestaltung von Marxloh, Bruckhausen und Hochfeld kümmert. „Stadtteile mit besonderen Erneuerungsbedarf“ nennen Politiker diese Ecken gerne.
Maschke läuft über die Weseler Straße in Marxloh, blickt stolz auf die Brautmodenmeile. „Der Stadtteil hat sich gemacht, aber er sieht nicht mehr so aus wie früher.“ Das Marxloh der 60er-Jahre florierte, das Thyssen-Werk brauchte Arbeiter. Erst kamen die Italiener, später Türken. 1960 wurden die Mitarbeiter in allen Duisburger Werken erstmals gezählt. Rund 53.000 Personen arbeiteten in den Stahlwerken von Thyssen, Krupp oder Mannesmann. „1974 haben wir dann den Spitzenwert von rund 60.000 Mitarbeitern am Stahlstandort erreicht“, erinnert sich Thomas Schlenz, Personalvorstand von Thyssen-Krupp Steel Europe. Der Aufschwung hielt nicht lange. „Durch Rationalisierungen und die zunehmende Automation sind schrittweise über die Jahre immer wieder Arbeitsplätze weggefallen, für die es aber sozialverträgliche Lösungen gab.“ Der größte Einschnitt in Duisburg war aber sicherlich die Schließung in Rheinhausen, von der auf einen Schlag 5000 Menschen betroffen waren.
Parallel änderte sich in den Jahren auch das Bild im Duisburger Norden. „Die Arbeiter, die besser verdienten, zogen ins Grüne“, weiß Heiner Maschke. Die türkischen Familien blieben. „Das Zusammengehörigkeitsgefühl auf dem Hüttenflur ist noch das gleiche wie früher. Früher haben die Stahlarbeiter auch in der Nähe des Werkes gewohnt und sind nach der Schicht noch in die Eckkneipe gegangen. Die Verbindung zur Stadt war größer als heute, wo viele Mitarbeiter einpendeln“, bestätigt Schlenz.
Erst schwanden die Bewohner, dann Bäcker und Metzger. Am Ende änderten sich auch soziale Strukturen. Um die Lebensbedingungen in Bruckhausen und Marxloh zu verbessern, wurden so genannte Entwicklungsgesellschaften gegründet. Sie brachten soziale Einrichtungen auf den Weg, sorgten dafür, dass unbewohnte Häuser abgerissen, Straßenzüge umgebaut werden.
Aktuell finanzieren Land, Bund, EU und Thyssen-Krupp Steel Europe einen riesigen Park. Der so genannte Grüngürtel zieht sich durch Marxloh, Bruckhausen und Beeck und soll die Wohngebiete besser von der Industrie trennen. „Diese grüne Lunge hilft den Anwohnern und wertet ihren Stadtteil dauerhaft auf“, betont Schlenz. „Unsere Verpflichtung ist es nicht nur, unseren Mitarbeitern sichere Arbeitsplätze zu geben, sondern auch den Menschen rund um unser Werk ein gutes Wohnen zu ermöglichen.“
Was Arcelor-Mittal für Eisenhüttenstadt, ist Thyssen-Krupp für Duisburg
Thyssen-Krupp ist in Duisburg noch immer der größte Arbeitgeber und beschäftigt derzeit 14.000 Mitarbeiter. Damit hat der Konzern in der Region die gleiche herausragende Funktion wie Arcelor-Mittal in Eisenhüttenstadt. „Wir haben immer gesagt, wenn das EKO hustet, hat die Stadt eine Lungenentzündung“, weiß Pressesprecher Jürgen Schmidt, der 1993 beim EKO anheuerte, um neue Strukturen mit aufzubauen und seitdem sämtliche Betriebsübergänge und Fusionen miterlebt hat.
Das Werk war viele Jahre ein Vorzeige-Betrieb, der geostrategisch gut gelegen war, allerdings sämtliche Rohstoffe zur Stahlproduktion herankarren lassen musste. Der Koks kam aus Polen, die Erze aus der Sowjetunion, der Kalk aus Rüdersdorf bei Berlin. Im Drei-Schicht-Betrieb schufteten die Mitarbeiter, um die Fünf-Jahres-Ziele der Regierung zu erfüllen. Allerdings zeichnete sich bereits Anfang der 80er ab, dass die DDR Liquiditätsprobleme hatte. So sollte ein Warmwalzwerk gebaut werden. Das braucht man, um aus den Blöcken, Brammen genannt, Bleche zu formen. „Wir hatten hier Hochöfen, eine Sinteranlage, ein Stahlwerk und auch ein Kaltwalzwerk. Aber die dritte Produktionsstufe, das Warmwalzwerk, fehlte. Deshalb mussten wir die Brammen immer woanders walzen lassen“, so Schmidt. Der Bau wurde begonnen, doch dann ging der DDR offenbar das Geld für das Projekt aus – es wurde verschoben.
"Die Partei war im Werk präsent"
„Die Partei war im Werk präsent. Die Leute hatten hier nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern konnten den Nachwuchs in den Kindergarten bringen, es gab eine eigene Poliklinik für die Mitarbeiter und Ferienheime.“ Auf einmal hingen die Arbeiter in der Luft, das Kombinat wurde unter Aufsicht der Treuhand gestellt. „Wir wussten nicht, wie es weitergeht. Krupp war beispielsweise hier und hat sich angeschaut, ob sie bei uns einsteigen“, erinnert sich Schmidt. Vier Jahre zogen sich die Privatisierungsverhandlungen hin. Vier Jahre Unsicherheit – bis der Standort von dem belgischen Unternehmen Cockerill-Sambre übernommen wurde. 2300 Mitarbeiter arbeiteten dann noch unter der neuen Leitung.
Im Jahr 1995 startete ein umfangreiches Modernisierungsprogramm. Ein großer Hochofen und das neue Warmwalzwerk gingen 1997 in Betrieb. 1999 stiegen schließlich Franzosen ins Unternehmen ein – das EKO gehörte zur Usinor-Gruppe, die 2002 bei einer Fusion in Arcelor überging.
Sorge um die Arbeitsplätze
„Mit jedem Verkauf stellte sich neu die Frage, was aus den Arbeitsplätzen wird, ob unsere Kennzahlen gut genug sind. Das hat uns zusammengeschweißt.“ Als 2006 Arcelor mit Mittal Steel verschmolz, galten die Eisenhüttenstädter längst als „kleines gallisches Dorf“, das seinen Platz im Unternehmen gefunden hat. 2013 wurden 1,7 Millionen Tonnen Flachstahl produziert, 68 Prozent gehen davon an Autohersteller, die Haushaltsgeräte- und Bauindustrie nach Mittel- und Osteuropa. Die geografische Lage ist ein Vorteil.
Dabei hat sich auch bei der Produktion in den Werken, in Ost ebenso wie in West, viel getan. „Wir sind nicht old economy. Stahl ist inzwischen ein Hightech-Produkt“, betont Schlenz. Thyssen-Krupp in Duisburg und Arcelor-Mittal in Eisenhüttenstadt sind nach wie vor als Arbeitgeber eine Größe und beliebt. Inzwischen haben sich aber auch eine Papierfabrik und Zulieferer für die Solarindustrie in Eisenhüttenstadt angesiedelt. Nur mit dem Werben um neue Mitarbeiter haben es die Firmen im Osten schwerer. Thyssen-Krupp profitiert von der Größe des Ruhrgebiets. „Wir hatten früher die Idee, dass wir auch Ingenieure aus Aachen oder anderen Städten an uns binden können“, erklärt indes Schmidt. Doch die meisten mochten sich nicht so richtig an den Osten gewöhnen. Nach ein, zwei Jahren waren sie oft wieder weg. Arcelor-Mittal kooperiert deshalb verstärkt mit Hochschulen aus der Region. Der Strukturwandel in den Köpfen dauert länger.