Berlin. In Berlin steigen die Mieten, der Tourismus boomt. Alleine 11,3 Millionen Besucher kamen im vergangen Jahr. Doch was ist 25 Jahre nach dem Mauerfall aus dem “arm, aber sexy-Image“ der Stadt geworden ? Wurden doch inzwischen ganze Stadtteile neu gebaut und die Mauer weitestgehend abgerissen...

Die Häuser hatten Einschusslöcher, Kohle-Öfen und weder Telefon noch Dusche. Es klingt wie Nachkriegszeit, wenn sich die Pioniere von Berlin-Mitte an die Zeit nach dem Mauerfall erinnern. Die verwitterten Altbauten im Osten wurden zum Abenteuerspielplatz für Kreative aus aller Welt. "Es war ein anderer Planet", sagt Fotograf Chris Keller (48), der 1990 nach Berlin kam. "Für uns war es ein riesiger Aufbruch", sagt die Grafikerin Anke Fesel (43).

Die beiden Westdeutschen haben einen Bildband über die wild-romantischen 90er Jahre herausgegeben. "Berlin Wonderland" erzählt die Geschichten aus der Zeit, als das Künstlerhaus Tacheles noch cool und das Café "Hackbarth's" noch neu war. Billige Wohnungen, besetzte Häuser, illegale Clubs, Kellerbars und der Ruinen-Charme von damals sind fast überall verschwunden. Was ist aus dem Zauber Berlins geworden, wohin geht die Reise?

Was hat sich nicht alles verändert in den 25 Jahren nach Mauerfall: Ganze Stadtteile wurden gebaut, wie am Potsdamer Platz und im Regierungsviertel. Von der Mauer ist fast nichts mehr geblieben. Zu verhasst war sie der Stadt, die erst lernen musste, dass es Orte der Erinnerung braucht. Ost und West sind im Straßenbild zusammengewachsen, in den Köpfen nicht immer.

Stadt wird von Touristen überrannt

Das Knattern der Trabis ist in Berlin längst dem Rattern der Rollkoffer gewichen. Imbisse heißen jetzt "Streetfood". Der Milchkaffee wird wie überall von tätowierten Kellnern serviert und schmeckt genauso wie in New York oder Kapstadt. Berlin ist heute globalisiert, vieles ist wie in anderen Metropolen.

Und doch wird die Stadt von Touristen förmlich überrannt. 1991 waren es noch 3 Millionen Besucher, im vergangenen Jahr 11,3 Millionen. Die Grüne Kreuzberger Bürgermeisterin Monika Herrmann ist schon so genervt, dass sie im "Tagesspiegel" fragte: "Warum haben die lauten Ziehkoffer der Hostelbesucher zum Beispiel keine Gummirollen?".

Die Zeitung "USA Today" staunte über das außergewöhnliche Comeback Berlins - von der Hauptstadt Nazi-Deutschlands zur "europäischen Hauptstadt der Coolness". Weltklasse-Museen, Restaurants, Konzerthäuser, Galerien und Boutiquen, wunderschöne Parks und ein Nachtleben, das nur wenige Städte toppen könnten: "Und das alles kann man für viel weniger erkunden als man in London oder Paris ausgeben würde."

Alter Flugplatz wird zum Park

Kaum ein Berlin-Artikel kommt ohne das "Berghain" aus, den Techno-Club, der laut "Zeitmagazin" ein "Nationaldenkmal" geworden ist. Wobei es die Clubs in Berlin nicht immer leicht haben: Die Mieten steigen. Nachbarn klagen über Lärm. "Techno-Strich" heißt die Gegend rund um die Warschauer Brücke wegen der Horden von Partygängern.

Langsam werden in Berlin die originellen Orte knapp. Backpacker bevölkern schon die Bierbänke vor den Spätkauf-Läden. Selbst das Parkdeck eines Einkaufszentrums wird als Clubkulisse genutzt, so wie es der "Klunkerkranich" in Neukölln macht. Es wird immer schwerer, in angesagten Restaurants einen Tisch zu bekommen, im "La Soupe Populaire" von Tim Raue kann es Wochen dauern. Der "Streetfood"-Donnerstag in der Kreuzberger Markthalle IX ist brechend voll. Geheimtipp, das war einmal. Schon machen die ersten Abgesänge auf Berlin die Runde. Leipzig sei spannender, irgendwie aufregender.

Gegenargumente zu finden, ist nicht schwer. Welche Stadt hat schon einen alten Flughafen wie Tempelhof, der ein riesiger Park geworden ist? Eine Museumsinsel? So viele Theater, Konzerte, Kinos? Eine Geschichte mit solchen Brüchen wie die einstige Frontstadt des Kalten Krieges? Noch immer zieht Berlin viele Studenten und Kreative an. In den vergangenen fünf Jahren ist es noch einmal internationaler geworden. In manchen Szenekneipen hört man fast nur Englisch.

Der Mauerfall hat Berlin befreit, so sieht es Grünen-Politiker Jens-Holger Kirchner. "Es hat aus der Stadt einen Schmelztiegel gemacht, ein Versuchslabor." Den schnieke sanierten Prenzlauer Berg kennt er noch aus Ostzeiten und in Ruinen. In den Nuller Jahren lieferte das Viertel ein Stück Berliner Folklore: Früher hip, heute langweilig und von Eltern bevölkert, die ihre Kinder mit drei Jahren zum Chinesisch-Unterricht schicken.

"Monetäre Zwänge" waren unwichtig

Den Bezirksstadtrat stören solche Klischees. "Das impliziert, dass Veränderung etwas Schlechtes ist." Was Kirchner und andere Politiker umtreibt, sind steigende Mieten und der Kampf gegen Ferienwohnungen, die den Wohnraum noch knapper machen. Berlin wird voller, der Immobilienmarkt noch enger, sagen die Prognosen. Die 3,5-Millionen-Stadt wuchs zuletzt innerhalb eines Jahres um 42.000 Einwohner.

Ob sich da manche alte Zeiten zurückwünschen, die DDR, die BRD oder das "Berlin Wonderland" nach dem Mauerfall? Grafikerin Anke Fesel vermisst nur wenig. "Ich sehne mich nach der Freiheit, die man hatte, nach der Abwesenheit von Zwängen." Ihr Freund Chris Keller kann sich noch erinnern, wie unwichtig damals "monetäre Zwänge" waren. "Wir hatten alle fast gar kein Geld." Trotzdem habe es immer jemand geschafft, etwas zu essen einzukaufen. "Dann hat man was zusammen gefuttert und ist dann ausgegangen."

Solche Geschichten aus der Bohème können noch viele Berliner erzählen. Der "arm, aber sexy"-Mythos, vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit geprägt, lebt. Die Frage ist: Wie lange noch? (dpa)