Hattingen. Sie zählt zu unseren stärksten Gefühlen: die Angst. Die einen fordern sie heraus, lassen sich durch sie zu Höchstleistungen antreiben. Die anderen sperrt die Angst in einen Kerker aus diffusem Unwohlsein, macht sie handlungsunfähig. Doch wann ist das beklemmende Gefühl noch gesund?
Carina* hat Angst. Reglos steht sie oben an der Kellertreppe, den Wäschekorb in den Händen. Vor ein paar Sekunden war noch alles in Ordnung, dann, plötzlich, hat die Angst sie überrollt. Sie weiß, dass sie diese 18 Stufen nicht hinuntergehen kann, nicht hinuntergehen wird. Gleichzeitig ist ihr klar, dass die Treppe keine Bedrohung ist – bloß eine Treppe, die sie schon zigmal hinunter- und hinaufgegangen ist.
Daniel* hat keine Angst – na gut: vielleicht ein bisschen. Aber es ist eher Anspannung, reine Konzentration, das Verschmelzen von Gedanken und Körper. Kein Seil, das ihn hält, nur die eigenen Muskeln, unter ihm der Abgrund. Er kennt diese Wand genau: Harter Basalt, an die 30 Meter hoch. Mit ihren Rissen und Kanten sieht sie aus wie ein riesiges Stück zerknittertes Papier. Noch ein Zug und er hat es geschafft: Heiß und berauschend durchströmen Endorphine seinen Körper. Er fühlt sich mächtig, unverwundbar, unsterblich.
Carina dreht sich langsam um, geht zurück in ihre Wohnung, stellt den Wäschekorb ab, schließt leise die Tür und rollt sich auf dem Sofa zusammen. Sie fühlt sich schwach, erschöpft, besiegt.
Zwischen der gesunden Angst eines Menschen, dem eine tatsächliche Gefahr droht, und der krankhaften Angst vor Bedrohungen, die keine sind, liegen Welten. Den einen schützt die Angst davor, unkalkulierbare Risiken einzugehen, seine Gesundheit oder gar sein Leben aufs Spiel zu setzen. Den anderen macht sie handlungsunfähig, sperrt ihn in einen Kerker aus diffusem Unwohlsein, macht ihn zu ihrem zitternden Gefangenen.
Unsere Angst spielt sich vor allem im limbischen System und der Amygdala, also in entwicklungsgeschichtlich alten Hirnregionen, ab. Neben Wut, Trauer und Freude ist sie eine der vier Grundemotionen des Menschen. „Ohne Angst hätte die Menschheit gar nicht überlebt“, sagt die Hattinger Psychiaterin Dr. Monika Kilian-Poburski. Viele Ängste seien nämlich „entwicklungsbedingt irgendwann einmal sinnvoll“ gewesen. Somit ist dieses Gefühl, das uns mitunter für eine Schrecksekunde lähmt und dann überwach und handlungsfähig macht, zunächst einmal etwas Gutes, Gesundes.
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Natürlich kennt auch Daniel Angst. „Als Kind hatte ich Angst vor der Dunkelheit, als Jugendlicher davor, schwach zu wirken, Wettkämpfe zu verlieren“, erzählt er. Ganz bewusst habe er sich seinen Ängsten gestellt, um sich davon zu befreien. Das macht er bis heute so. Die gelegentliche Free-Solo-Kletterei, also das Klettern ohne Sicherungsseil, hält er nicht für besonders gefährlich. Dennoch weiß seine Familie nichts davon, sie soll sich nicht um ihn sorgen. Außerdem will er nicht als Angeber dastehen – seine Touren seien schließlich relativ einfach. Das zu glauben, fällt erst einmal schwer. Doch was Daniel über sein geheimes Hobby sagt, klingt so gar nicht nach lebensmüdem Adrenalin-Junkie: „Man darf sich nicht überschätzen und die Situation nicht unterschätzen.“ Er allein weiß, welche Wand er bewältigen kann, er allein ist in der Lage, das Risiko einzuschätzen. Das Bewusstsein für seine körperlichen Fähigkeiten hält die Angst klein, macht sie zu einer meist stillen, manchmal aufbegehrenden Begleiterin, die er jederzeit in ihre Schranken weisen kann.
Angst ist wichtig, um uns Grenzen aufzuzeigen
Anders als Daniel betreibt Hansjörg Auer, österreichischer Sportkletterer und in der Szene weltberühmt, seine spektakulären Expeditionen und Free-Solos vor den Augen der Öffentlichkeit. Er bezeichnet Angst als einen „Sicherheitsfaktor“, der einem die eigenen Grenzen aufzeige und Schutz biete. Denn es gebe beim Free-Solo nichts Gefährlicheres, als in stumpfe Routine zu verfallen. Spätestens dann sei es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und andere Dinge zu machen. „Wenn man ein Risiko bewusst eingeht, ist es viel sicherer, als wenn man sich des Risikos nicht bewusst ist“, sagt der 30-Jährige. Das klingt mutig, und in seinem Fall auch irgendwie vernünftig.
Was aber muss passieren, damit schützende Angst in erdrückende Furcht umschlägt und warum können die einen ihre Angst beherrschen und sinnvoll für sich nutzen, während die anderen an ihr verzweifeln? Auf Carina jedenfalls wartet die Angst überall, springt sie unvermittelt an und krallt sich an ihr fest.
Wie viele Menschen in Deutschland unter einer Angststörung leiden, lässt sich nur schwer ermitteln, was vor allem daran liegt, dass diese Art der psychischen Erkrankung erst seit etwa 30 Jahren einheitlich als solche diagnostiziert und behandelt wird. Ende der 90er Jahre stellte das Robert-Koch-Institut fest, dass 14 Prozent der befragten Menschen im Laufe des Untersuchungszeitraums von einem Jahr unter einer Angststörung litten – auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet wären das etwa sieben Millionen Menschen. Frauen sind dabei etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. Eine Schlussfolgerung drängt sich auf: Die einen sind eben von Natur aus ängstlich, die anderen mutig, die Ängstlichen werden krank, die Mutigen bleiben gesund. Doch ist das schon die ganze Wahrheit?
Angststörungen generell bei ängstlichen Menschen zu verorten, sei falsch, sagt Monika Kilian- Poburski. Zwar spiele die genetische Veranlagung eine Rolle, ebenso einflussreich sei aber auch das „Lernen am Modell“. So gibt es einerseits Kinder, die von Geburt an dazu neigen, sich beispielsweise vor Spinnen oder großer Höhe zu fürchten – was Langzeitstudien der Harvard University belegen. Andererseits kann Angst auch erlernt werden: Manche Kinder gucken sich Ängste förmlich bei ihren Eltern ab oder, und das ist fast noch verhängnisvoller, entwickeln sie durch die Kopplung von Reizen.
Angsteinflößende Forschung
Das bewies 1920 ein nach heutigen Maßstäben höchst verwerflicher Versuch namens „Little-Albert-Experiment“: Der Arzt John B. Watson zeigte einem elf Monate alten Jungen eine weiße Ratte, während gleichzeitig ein Hammer auf eine Eisenstange geschlagen wurde. Hatte das Kind während einer Vorstudie noch mit Neugier auf die Ratte reagiert, ließ das Geräusch des Eisens es nun zurückschrecken. Nach mehrmaligen Wiederholungen zeigte der Junge Angst vor der Ratte, später dann auch vor ähnlich aussehenden Dingen wie Fell oder Baumwollbüscheln. Dass das Experiment funktionierte, lag keinesfalls nur an der Ratte, vor der sich viele Menschen ohnehin fürchten. Es hätte mit jedem Tier oder Gegenstand funktionieren können, sagen Fachleute.
Unserer Furcht sind theoretisch keine Grenzen gesetzt. Auch als Erwachsene können wir scheinbar absurde Ängste entwickeln, indem wir ein traumatisches Erlebnis unbewusst mit einem bestimmten Reiz verknüpfen. Da ist zum Beispiel die Frau, die pendelnde Lampen nicht ertragen kann. Irgendwann hat sie etwas Schlimmes erlebt und gleichzeitig eine Bewegung in der Luft wahrgenommen, die ihr Gehirn abgespeichert hat. Bewusst war ihr diese Verbindung erst einmal nicht. Monika Kilian-Poburski kennt Dutzende solcher Fälle. Oft werde das eigentliche Ereignis verdrängt, die Angst beim Auftreten des entsprechenden Reizes jedoch würde bleiben.
Wie aus einer gesunden Angst eine Krankheit wird
Es braucht also nicht viel, damit aus gesunder Angst eine Krankheit wird. Bei Carina begann es vor über elf Jahren. Mit einer Panikattacke, die aus dem Nichts kam. Sie war auf dem Weg zu ihrem Job im Fitnesscenter. Als sie die Treppe hochging, wurde ihr plötzlich schwindlig, übel, der Kreislauf brach zusammen. Jemand fuhr sie nach Hause, wo sie sich hinlegte; eine Erschöpfung „wie nach einem 14-Stunden-Arbeitstag“ lastete auf ihr. Am nächsten Tag fühlte sie sich besser, fuhr zu einem Termin beim Augenarzt, setzte sich ins Wartezimmer und abermals rollte es wie eine Welle über sie hinweg: Schwindel, Übelkeit, Schmerzen in den Beinen. „Ich konnte nicht mehr richtig sehen, mein Gesicht war wie taub“, erzählt Carina. Danach wieder diese Erschöpfung. Sie dachte an eine schlimme Krankheit, ließ sich beim Hausarzt untersuchen, doch der fand nichts: „Organisch sind Sie ok“, habe er gesagt. Und in Carinas Kopf begannen die Gedanken zu rasen: „Organisch ok? Was soll das heißen? Was will der mir denn hier einreden? Ich bin doch nicht verrückt.“
Die Panikattacke
Bei einer Panikattacke wird der Körper mehrere Minuten lang von Angstgefühlen überflutet. Blutdruck und Adrenalinspiegel steigen, die Atmung beschleunigt sich. Da die Attacke, anders als die Phobie, nicht an ein Objekt oder eine Situation gebunden ist, bricht sie vollkommen unvorhersehbar über den Betroffenen herein. Er nimmt die körperlichen Symptome wahr, sieht seinen Körper versagen, sich seiner Kontrolle entziehen und verspürt Todesangst.
„Viele Betroffene lassen sich ins Krankenhaus einliefern weil sie einen Herzinfarkt oder Ähnliches vermuten“, sagt Monika Kilian-Poburski. Eine Fehlinterpretation, denn es ist genau umgekehrt: Die Angst löst die Symptome aus. Sie ist längst da, wenn die Betroffenen beginnen, ihre körperlichen Auswirkungen zu spüren. Treffen kann es Experten zufolge jeden.
Mit Herzrasen geht sie zur Arbeit
Carinas Krankheit wurde mit jedem Tag schlimmer. Sie weigerte sich, die Diagnose zu akzeptieren, wollte die verschriebenen Tabletten nicht nehmen. Morgens ging sie mit Herzrasen zur Arbeit, konnte kaum atmen. Redete sich raus, wenn Arbeitskollegen sie besorgt fragten, warum sie so weiß im Gesicht sei: „schlecht geschlafen“, „nichts gegessen“. Sie ging Situationen aus dem Weg, die ihr Angst machten, vermied es, allein unterwegs zu sein. So quälte sie sich von Tag zu Tag. Als sie begann, die Tabletten zu nehmen und sich behandeln zu lassen, wurde es zunächst noch schlimmer, dann ging es langsam bergauf. Doch erst seit zwei Jahren fühlt sie sich wirklich stabil. Die Panikattacken sind selten geworden, sie erkämpft sich Stück für Stück ihre Freiheit zurück. Die Ursache ihrer „generalisierten Angststörung“, wie Fachleute es nennen, kennt sie noch immer nicht, sie kann nur mutmaßen: In ihrer Ehe habe sie sich ein bisschen wie in einem golden Käfig gefühlt, irgendwie war es nicht das Leben, das sie sich wünschte. Gleichzeitig setzte sie sich selbst unter Druck: „Alles sollte perfekt sein“. Seit sie aus dem Käfig ausgebrochen ist, scheint auch die Angst ihren Griff zu lockern.
Aber lässt sich Carinas Situation nicht irgendwie auf unser aller Leben übertragen? Hemmt Angst nicht auch uns, die wir gar nicht unter einer Angststörung im medizinischen Sinne leiden? Bremst sie uns nicht aus, indem sie verhindert, dass wir Neues ausprobieren, unser Leben überdenken, Abenteuer suchen? Wie viel Angst können Menschen wie Werner Foßmann, der den Herzkatheter im Selbstversuch entwickelte, oder der „erste fliegende Mensch“ Otto Lilienthal, der seinen Mut letztendlich mit dem Leben bezahlte, schon gehabt haben? Wäre die Menschheit heute noch weiter, wenn sie nur nicht ständig dieses Gefühl mit sich herumschleppte wie einen Klotz am Bein?
Wie Angst uns zur Höchstleistung antreibt
Einer der bekanntesten deutschen Angstforscher, Borwin Bandelow, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Göttingen, widerspricht: Man müsse ängstlich sein, um Großes zu vollbringen, sagt er in einem Interview. Und: „Angst ist das Superbenzin für Erfolg.“ Allein die Angst davor, zu versagen, könne einen Menschen zu Höchstleistungen antreiben. Prominente Beispiele: Charles Darwin, Sigmund Freud, Isaac Newton, Johann Wolfgang von Goethe, Antonio Vivaldi – sie alle litten unter einer Form medizinisch bedeutsamer Angst.
Monika Kilian-Poburski würde nicht so weit gehen, ein Loblied auf die Angst anzustimmen. Dennoch sagt auch sie: „Es ist gut, ein Mittelmaß zu haben, die eigenen Grenzen sensibel wahrzunehmen.“ Man müsse nicht ständig und dauerhaft mutig sein, das könne man getrost der kleinen Gruppe der scheinbar Angstfreien überlassen. Was sie für wichtig hält, wozu sie ihren Patienten verhelfen will, ist „sich trauen, zu leben“.
Genau daran arbeitet auch Carina. Es sind die alltäglichen Herausforderungen, für die die 39-Jährige ihren ganzen Mut aufbringen muss und deren Bewältigung sie mit Stolz erfüllt: allein zum Zahnarzt gehen, mit dem Auto in die Stadt fahren. „Wenn ich mich dem Angststimulus aussetze und ihn aushalte, sinkt das Angstniveau, da der Körper es auf Dauer nicht halten kann“, erklärt Monika Kilian-Poburski. „Wenn ich das jedoch abbreche, ist das Angstniveau beim nächsten Mal noch höher, weil das Gehirn registriert: ,Ich hatte Recht damit, Angst zu haben’.“
Und was hat es mit dem Hochgefühl auf sich, das wir erleben, wenn wir eine Angst bezwungen haben? „Wir sind so gestrickt, dass wir Dinge steuern und kontrollieren wollen“, sagt Monika Kilian-Poburski. Wenn uns das in einer von Angst beherrschten Situation gelingt, fühlen wir uns mächtig. Das gilt, zum Glück, sowohl im Großen als auch im Kleinen: „Riesige Genugtuung“ verspürt Hansjörg Auer, wenn er während einer Expedition „von Angst auf Handeln umgeschaltet hat“. Daniel fühlt sich freier, weil er beim Free-Solo seinen Ängsten trotzt. Für Carina ist jeder Tag, an dem sie sich von ihrer Angst nicht einsperren lässt, ein Triumph.
Vor Kurzem war sie klettern. Mit Seil, das versteht sich von selbst. Vorher hatte sie furchtbare Angst, befürchtete das Schlimmste. Dann erreichten sie den Klettergarten, Carina bekam den Gurt umgeschnallt, und ganz plötzlich war die Angst verschwunden: Carina hatte Spaß, amüsierte sich, und das, obwohl sie etwas Neues tat, die gewohnten Wege verließ. Sie fühlte sich gut – nicht unverwundbar oder unsterblich – sondern einfach ganz normal mutig.
* Name geändert
Der Unterschied zwischen Phobie und Panikstörung
Mit Angststörungen bezeichnet man eine Gruppe psychischer Störungen, deren gemeinsames Merkmal ein übersteigertes Angstempfinden ist, das auch mit körperlichen Symptomen einhergeht. Diese können so stark ausgeprägt sein, dass sie das alltägliche Leben stark beeinträchtigen. Angststörungen werden unterteilt in:
Panikstörung: plötzlich auftretende, wiederkehrende Panikattacken, die nicht an ein Objekt oder eine Situation gebunden sind und starke körperliche Symptome wie Herzrasen, Übelkeit, Schwindel oder Erstickungsgefühle verursachen.
Phobie: übertriebene und andauernde Angst vor bestimmten Situationen, Gegenständen, Tätigkeiten oder Personen.
Generalisierte Angststörung: Verselbstständigung der Angst, die nicht an ein Objekt oder eine Situation gebunden ist; Betroffene machen sich ständig Sorgenüber alle Bereiche des alltäglichen Lebens, ihre Gedanken drehen sich um negative Folgen. Die dauerhafte Anspannung führt zu körperlichen Symptomen.