Denver. . Nach der Legalisierung von Marihuana in zwei US-Bundesstaaten wittern viele Amerikaner den großen Gewinn, hofft der Staat auf weniger Gefängnisinsassen, warnen Kritiker vor der gewaltigen Gefahr. Und was macht der Normalbürger? Der stellt sich an, um etwas Neues zu probieren. Etwa Cannabis-Kekse.
„Nach einer Stunde mussten wir schon rationieren, sonst wären wir sehr schnell ausverkauft gewesen.“ Wenn Linda Andrews über den 1. Januar erzählt, bekommt die ausgebildete Psychologin einen wonnigen Gesichtsausdruck, als hätte sie selbst vom „Sauren Diesel“ gekostet; dem Verkaufsschlager im Sortiment von „Lodo Wellness“ mitten in der schmucken Backstein-Fassaden-Innenstadt von Denver. Aber die Endvierzigerin trinkt „höchstens mal ein Glas Wein.“ Sie kifft nicht. Anders als ihr Mann, ihre Tochter und der Schwiegersohn in spe, mit denen sie gemeinsam zu den Pionieren des „Green Rush“ gehört. Des grünen Rausches am Fuße der Rocky Mountains, zu dem Andrews nur ein Wort einfällt: „Goldgräberstimmung!“
Seit der US-Bundesstaat Colorado zum Jahreswechsel Marihuana legalisiert hat und wissenschaftlich geprüften Hanf mit definiertem THC-Gehalt von geschultem Personal zu regulierten Preisen abgibt, geht es in Linda Andrews’ mit Bildern und Wand-Ornamenten auf indisch getrimmten Ladenlokal an der Wazee-Straße zu wie im Taubenschlag – und das sechs Tage die Woche von 10 bis 19 Uhr. Besucher aus allen Schichten und Teilen des Landes, aus Kanada, Lateinamerika und vereinzelt auch aus Europa stehen Schlange für den ersten legalen Joint.
Sieben verschiedene Sorten
Wer die kurze Pass- und Alterskontrolle absolviert hat, kann im hell ausgeleuchteten Verkaufsraum im Kellergeschoss einer ehemaligen Bilderrahmen-Werkstatt bei Steve und den anderen Angestellten zwischen sieben verschiedenen Sorten wählen und die täglich schwankenden Preise am Monitor studieren. Von „Kandy Kush“ (beruhigend) bis „Todesstern“ (anregend“) reicht das in kleinen, grünen Plastikdosen verabreichte Produkt, stets beäugt von Überwachungskameras. Es herrscht klinisch saubere Apotheken-Atmosphäre. Bei Grammpreisen um die 20 Dollar ist alles zwar erheblich teurer als beim Dealer an der Ecke. „Aber dafür vollkommen legal“, sagt Linda Andrews, „außerdem weiß man bei uns genau, was drin ist.“
Zwei Räume und Stahltüren weiter stehen Hunderte Cannabis-Pflanzen in voller Blüte. Sehr zur Freude des örtlichen Energieversorgers. Das erdig riechende Grünzeug wird 24 Stunden am Tag von Speziallampen gleißend hell bestrahlt und von laut surrenden Luftbefeuchtern bei Laune gehalten. Jede einzelne Pflanze trägt einen Barcode. Damit der Ertrag aufs Gramm genau nachgeprüft und den Behörden gemeldet werden kann. 70 Prozent der Ware, die bei „Lodo Wellness“ über die Theke geht, muss aus eigenem Anbau kommen. Eine von Dutzenden Vorschriften, die die ersten 18 staatlich lizenzierten Marihuana-Händler in Denver-City zu beachten haben. „Das ist manchmal mühsam“, sagt Linda Andrews, „aber okay, schließlich schaut die ganze Welt auf unser Experiment.“ Nie zuvor hat ein Bundesstaat Cannabis von der Produktion über die Verarbeitung bis hin zum Verkauf komplett aus der Zone des Kriminellen geholt und so den Weg für einen neuen Wirtschaftszweig geöffnet.
Das Experiment begann am 6. November 2012. Bis dahin war Marihuana nur als Schmerzmittel für knapp 110 000 registrierte Bürger erlaubt, darunter 130 Patienten unter 18 Jahren. Parallel zur Bestätigung von Barack Obama im Weißen Haus stimmten 54 Prozent der Bürger Colorados, darunter 80 Prozent der Jungwähler unter 30 Jahren, am Präsidenten-Wahltag parallel für das Recht auf Rausch. Bis hin zum Anbau im heimischen Klein-Gewächshaus.
Befürworter wollen der Drogen-Mafia die Macht nehmen
Der Gedanke dahinter ist uralt. Entzieht man der weltweit operierenden Drogen-Mafia ihr mit obszönen Gewinnmargen verkauftes Produkt, schwindet ihre Macht. Und die Gefängnisse, in denen in Amerika überproportional viele Klein-Dealer und Eigenverbraucher sitzen, darunter überproportional viele Afro-Amerikaner und Latinos, werden leerer. Nimmt der Staat das Geschäft mit der Droge über engmaschig kontrollierte Händler selbst in die Hand, verliert die illegale Szene Marktanteile und in der Staatskasse landen Millionen. Einsetzbar für Drogenprävention, Gesundheitsvorsorge und andere soziale Zwecke. Soweit die Theorie. In Colorado, so ist es gesetzlich vorgeschrieben, sind für jedes verkaufte Gramm Marihuana wuchtige 36 Prozent Steuern zu entrichten. Der größte Teil der für dieses Jahr kalkulierten 70 Millionen Dollar Einnahmen müssen in die Modernisierung von Schulen investiert werden.
Julie Dooley ist damit „,mehr als einverstanden.“ Die 45-Jährige hat drei Kinder – 18, 16 und 13 Jahre alt – und am Stadtrand von Denver eine der innovativsten Produktionsstätten für das, was in den USA auch als „Pot“, „Gras“ oder „Weed“ bekannt ist. Auf dem Herd bei „Julie & Kate“ steht an diesem sonnigen Morgen ein Topf, in dem seit Stunden eine nach Marihuana riechende Flüssigkeit schmurgelt. „Das ist Bio-Butter mit Red Dragon“, sagt Dooley, die sich selbst als Cannabis-Bäckerin bezeichnet. Das Tetrahydrocannabinol im „roten Drachen“ mache die Butter zu einem „wunderbaren Schmerzlöser, gerade bei Rückenproblemen“.
Zusammen mit drei Angestellten stellt die regelmäßig mit Laboren und Ärzten kooperierende Geschäftsfrau vorzugsweise Müsli-Riegel, Krokant-Ecken und Kekse mit Marihuana-Beigabe her. „Ohne Gluten und ohne Zucker, für den gesundheitsbewussten Kiffer.“ Auf jeder Verpackung ist der exakte THC-Wert angegeben. „Wenn sie das hier in einem Rutsch aufessen“, sagt Dooley und hält dem Besucher einen ihrer beliebten „Nusshappen“ unter die Nase, „dann segeln sie für ein paar Stunden angenehmen leicht über den Wolken.“ Die Geschäfte müssen blendend laufen. Dooley sucht neues Personal. „Wir haben Umsatzsteigerungen um die 150 Prozent.“ Ein Wert im unteren Drittel des Spektrums der knapp 400 bisher in ganz Colorado lizenzierten Händler. Und trotzdem vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar.
Vor 30 Jahren nannte der damalige US-Präsident Ronald Reagan Marihuana „die gefährlichste Droge Amerikas“. Einer seiner Vorgänger, Richard Nixon, hatte 1971 offiziell den „Krieg gegen die Drogen“ verkündet. Nur zehn Prozent der Bürger konnten damals der Idee der Legalisierung etwas abgewinnen. Längst hat sich Ernüchterung breit gemacht. Trotz ganzer Armeen, die in Amerika und seinen südlichen Nachbarländern in Marsch gesetzt wurden, unterstützt von annähernd 10 000 Beamten der US-Drogenfahndung DEA, hat sich der Drogenhandel bis heute krakenhaft ausgeweitet; mit all seinen hässlichen Begleiterscheinungen von Erpressung und Bestechung bis hin zu Mord und Totschlag. Das Justizwesen ächzt unter der Last der Verfolgung. Viele Vollzugsanstalten sind überfüllt mit Dealern und Kiffern. Seit auch konservative Eliten, etwa der frühere Außenminister George P. Schultz, Paul Volcker, einst Chef der Notenbank Fed, oder die Börsenlegende George Soros für ein durchdachtes „Legalize It!“ eintreten, unterstützt von den Polizeichefs vieler Großstädte, setzt sich schleichend die Einsicht durch, dass eine drogenfreie Welt immer eine Wunschvorstellung bleiben wird. Und Verbote somit oft wirkungslos sind.
Heute sprechen sich in Umfragen 60 bis 65 Prozent der Amerikaner für eine regulierte Freigabe des wie Stimmungsaufheller und Antidepressiva gesellschaftlich anerkannten Rauschmittels Marihuana aus. In rund 20 Bundesstaaten ist Kiffen auf Rezept, also der Joint gegen Schmerzen bei Krebs und anderen Krankheiten, längst Standard. Nach den Pionieren Colorado und Washington an der Westküste werden in den nächsten Jahren weitere Bundesstaaten wie Alaska, Kalifornien, Oregon und Rhode Island den Genuss von Marihuana auch zu nichtmedizinischen Zwecken erlauben. „Das Umfeld hat sich stark gewandelt“, so Andrews, „wenn die Football-Profis in der NFL Marihuana als offizielles Schmerzmittel zulassen wollen und der amerikanische Präsident persönlich findet, dass ein Joint nicht gefährlicher ist als Alkohol, dann bleibt das nicht ohne Konsequenzen.“ Andrews erinnert das an das Ende der Prohibition bei Alkohol in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ihre Prognose: „In 50 Jahren werden wir gar nicht mehr wissen, dass Marihuana einmal verboten war.“
Kinderheilkundler warnt vor Gefahren
Gewagte These. Denn noch weiß niemand verlässlich, wie sich legaler und illegaler Markt entwickeln werden, wie viel Missbrauch trotz strengster Regeln mit der Handelsfreiheit getrieben wird und wie sich die Entkriminalisierung von Marihuana vor allem bei jungen Menschen auswirken wird. Professor Dr. Jeffrey Galinkin, ein in den USA bekannter Kinderheilkundler, ist jedenfalls erbost. Er untersucht an der Uni von Colorado in Denver seit Jahren, wie Marihuana auf den Organismus von Kindern und Jugendlichen wirkt.
Beim Gang durch sein Labor berichtet der Mediziner von Zwischenfällen, bei denen kleine Kinder in jüngster Zeit an Lebensmittel gerieten, die Cannabis enthielten. Etwa Gummibärchen. Oder Kekse. „Jugendliche können das Zeug sogar im Schul-Unterricht essen, und niemand wird eine mögliche Überdosierung bemerken. Bevor es zu spät ist.“ Galinkin reichen die Auflagen nicht, mit denen Minderjährige vom Kauf essbarer Cannabis-Produkte abgehalten werden sollen. Auch sei nicht auszuschließen, dass bei der Euphorie ein Überangebot entsteht, das über die Grenzen des Bundesstaates hinaus seine Exportmärkte findet. John Hickenlooper, der demokratische Gouverneur Colorados und insgeheim ein Gegner der Liberalisierung, teilt die Bedenken. Er sagt, man müsse „das kommende Jahrzehnt abwarten, um solide urteilen zu können, welche Büchse wir da geöffnet haben“.
Der Freiheit, sich sedieren oder aufputschen zu lassen, sind bis dahin in Colorado enge Grenzen gesteckt. Käufer müssen mindestens 21 sein. Bürger Colorados dürfen pro Tag maximal 28 Gramm kaufen (ca. 600 Dollar), Auswärtige höchstens sieben. Immer noch großzügig bemessen, wenn man berücksichtigt, dass die „Durchschnittstüte“ etwa ein halbes Gramm enthält. Geraucht werden darf nur in den eigenen vier Wänden. Im öffentlichen Raum – Schule, Straße, Parks, Kneipe, Skipiste, selbst auf dem Balkon des Hotelzimmers – ist kein Joint Venture gestattet. Wer erwischt wird, muss mit 250 Dollar Bußgeld rechnen. Andere Strafen reichen bis zu einem halben Jahr Gefängnis.
Allerdings gelten diese Auflagen nur für den klassischen Joint. Schon beim Vaporizer, einer Art E-Zigarette, die häufig im Straßenbild Denvers geschmaucht wird, schauen die Ordnungskräfte oft weg. Und wer die boomenden „edibles“ konsumiert, also Plätzchen, Pralinen, Schokolade, Eiscreme, Bonbons oder Kuchen mit psychoaktiver Beimischung, kann dies tun, wo immer es beliebt. Aber Obacht: Wer am Steuer mit mehr als geringfügigen THC-Werten im Blut erwischt wird, gilt als fahruntüchtig und ist dran. Bislang, so berichtete Mark Drajem, Chef der Verkehrsabteilung bei der Polizei in Denver im Gespräch mit dieser Zeitung, halten sich Grenzüberschreitungen im Rahmen. „Im Januar hatten wir nur fünf Fälle.“ Zum Vergleich: Im ganzen vergangenen Jahr – ohne Legalisierung – wurden 80 bekiffte Fahrer vorübergehend stillgelegt.
Uniabsolventen erkennen Geschäftsmodell
Der vom Kongress in Colorado gewollte Verdrängungswettbewerb der Marihuana-Konsumenten ins Private ist für Michael Eymer pures Glück. Der 31-Jährige ist nach einem Pädagogikstudium in die Selbstständigkeit gewechselt. Er veranstaltet mit seiner jungen Firma touristisch grundierte Marihuana-Touren durch Denver. Seine Kunden werden zu Verkaufsstellen gefahren, kriegen dort einen Crash-Kurs in Sachen Kiffen und können später in den psychedelisch eingefärbten Polstern der acht Meter langen Stretch-Limousine ihre frisch erstandene Ration wegpaffen und dabei die neue Hymne des Bundesstaates hören: „Rocky Mountain High“ von John Denver. Ob das erlaubt ist? „Das Auto hat abgedunkelte Scheiben“, sagt Eymer, „von außen sieht niemand, was drinnen passiert. Und das Cockpit ist mit einer Trennwand gesichert. Was soll die Polizei dagegen haben, es bringt der Stadt doch Einnahmen.“
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Eymer ist Pionier einer Branche, die längst größer denkt. „Seminare, in denen der Anbau von Marihuana gelehrt wird, Koch- und Backkurse für Speisen, die mit Pot versetzt sind, Betriebsbesichtigungen von Marihuana-Pflanzern, Hotels und Clubs, wo freie Fahrt fürs Rauchen gilt – wir stehen hier noch ganz am Anfang“, sagt Eymer nach einer seinen roten Augen nach zu urteilen anstrengenden Fahrt mit Besuchern aus dem Mittleren Westen.
Börsen-Analysten jubilieren
Für Börsen-Analysten ist das wirtschaftliche Potenzial weit mehr als „Peanuts“. Unternehmen, die Technik an Cannabis-Pflanzer verkaufen und vermieten, melden Kurssprünge bis zu 1700 Prozent. In Colorado allein wird der Umsatz mit Marihuana in diesem Jahr auf eine Milliarde Dollar taxiert. In den kommenden fünf Jahren prophezeit die Agentur Arcview Market Research ein Umsatzvolumen von zehn Milliarden Dollar. Landesweit, hat der Finanzdienst Bloomberg vorgerechnet, wären sogar bis zu 50 Milliarden Dollar zu heben. Mark Kleiman von der Uni in Kalifornien, einer der Vordenker der Liberalisierung, erwartet sehr bald schon den Einstieg großer Agrar-Unternehmen in das lukrative Geschäft. Weil die Hälfte der psychoaktiven Wirkstoffe in den Blättern und Wurzeln der Pflanze steckten, und nicht in den meist von Hand gezupften Blüten, könnten in industriellem Maßstab bald wettbewerbsfähige Cannabisprodukte auf den Markt kommen.
Unterdessen schlagen sich viele Klein-Produzenten mit bizarren Alltagsproblemen herum. Tag für Tag schleppen Cannabusiness-Leute wie Linda Andrews und Julie Dooley säckeweise Bargeld in hohen Summen aus ihren Geschäftsräumen und verstauen es an geheim gehaltenen Orten. Weil auf Bundesebene das Geschäft mit Marihuana weiter eine Straftat darstellt, konnte die Branche bis vor kurzem keine regulären Bankkonten eröffnen oder Kreditkarten in Anspruch nehmen. Über Geldhäusern, die es trotzdem tun, schwebte das Schwert eines Verfahrens wegen illegaler Geldwäsche; inklusive Beschlagnahmung der Konten.
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Weil aber in Washington, wo Präsident Obama, der in seiner Jugendzeit auf Hawaii mit seiner „Choom Gang“ regelmäßig kiffte und als ideeller Schutzpatron der Legalisierung gilt, niemand Schlagzeilen von überfallenen Pot-Händlern lesen möchte, hat Justizminister Eric Holder einen Kurswechsel eingeleitet. Banken, so eine neue Richtlinie, sollen lizenzierten Marihuana-Anbietern ihre Dienste anbieten dürfen, solange sie ihre Produkte nicht an Minderjährige verkaufen, mit Drogenkartellen paktieren oder ihre Ware außerhalb Colorados verkaufen. Die Botschaft ist angekommen. In New Yorker Wall Street-Kreisen wird bereits gewettet, wann Goldman Sachs oder JP Morgan eine Handelsplattform für Marihuana ins Leben rufen.
Einer der ersten, der es erfahren wird, ist gewiss Richard Baca. Der weltweit erste Rauchgift-Redakteur schreibt bei der Lokalzeitung „Denver Post“ jeden Tag über den grünen Rausch und ist für Medien aus dem Ausland ein gefragter Ansprechpartner. Welche Frage ihm am häufigsten gestellt wird? Ob die beiden Stellen für die Marihuana-Kritik noch frei sind, in der verschiedene Sorten Cannabis so akribisch wie Weine oder Whiskey besprochen und zensiert werden sollen. Längst besetzt…