Essen. Wasser statt Limo, Gemüse statt Süßigkeiten: Häufig lernen Kinder zwar, wie wertvoll gutes Essen ist. Experten sind dennoch besorgt: Das Kochen könnte eine aussterbende Kulturtechnik sein. Dabei gibt es gute Ansätze, wie man selbst bei den Jüngsten Freude in die Küche bringt.

Nie wird sich Agnes Lörks daran gewöhnen, dass ein Kind vor ihr steht und etwas aus dem Gemüsegarten der Landfrau anstarrt wie ein unbekanntes Flugobjekt. „Ein Kind, das neun Jahre alt ist und noch nie eine Gurke gesehen hat! Das muss man sich mal vorstellen!“

Das muss man sich nicht vorstellen, das ist Alltag in Deutschland.

Wer am Niederrhein in den letzten Jahren mal Drittklässler war, könnte die Landfrau aus Kalkar kennen. Agnes Lörks ist die Frau, bei der kleine Menschen Brief und Siegel darauf kriegen, dass sie nie mehr im Leben Äpfel mit Birnen verwechseln werden. Bei Frau Lörks machen sie den Ernährungsführerschein.

Noch nie gab es für deutsche Kinder so viel Informationen über gutes Essen wie heute. Doch noch nie scheint es so nötig gewesen zu sein. Ministerien und Krankenkassen machen Millionen locker, um kleine Menschen zu bewussten Essern zu machen. Die Tugend wächst aus der Not. Die Kochkultur ist bedroht, die gemeinsame Mahlzeit eine aussterbende Art. Ist die Katastrophe eine Chance?

Ein Siegel für gesunde Kinderernährung - das wäre ein Ziel

Als die stellvertretende Leiterin des Dortmunder Forschungsinstituts für Kinderernährung ihr ausgetüfteltes Konzert einer optimierten Mischkost („Optimix“) entwickelt hatte, da träumte Mathilde Kerstin: vom Siegel im Supermarkt, das Wege weist zur gesünderen Ernährung. Es war der Traum von Alltagshilfen für Käufer und von einsichtigen Lebensmittelproduzenten.

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Von Susanne Schild, Martin Spletter, Lars von der Gönna

Heute weiß Professor Dr. Kersting: „Der Traum wird morgen nicht wahr. Und übermorgen vielleicht auch nicht. Aber wir geben nicht auf. Unser Konzept setzt in der heutigen Ernährungswirklichkeit von Kindern an.“

Wer sich heute mit Kindern beschäftigt und mit dem, was in ihre Körper wandert, ist beides: Realist und Visionär. Selbst Spitzenköche wie Wolfgang Labudda sind Sendboten des Suppengrüns. Es ist sein Reich eigentlich ein anderes: Labudda kochte am feschen Tegernsee, tischte auf für Stars.

Aber als seine Töchter in den Kindergarten kamen, da juckte es ihn. Jeden Herbst hielt er ehrenamtlich zu Erntedank mit Kochmütze und Gemüsekörben Einzug in den Kindergarten Essen-Kettwig. Und es wanderten in die „Erntedanksuppe“: Kürbis, Porree und Kartoffel. Die Eltern hielten ihn für einen hoffnungslosen Optimisten.

Die Wahrheit waren Kinder, die begeistert löffelten. „Was man selber macht, isst man auch“, sagt der Chefkoch in Wellings Parkhotel Kamp-Lintfort: „Ich habe es kein Mal erlebt, dass ein Kind gesagt hat: Ich ess’ das nicht.“

Weg mit den Verboten und Kindern vertrauen 

„Vertrauen“, das sei ein guter Weg, wenn Kinder sich ums gute Essen drücken. Für jeden, der fertig mit den Nerven ist, weil Ben und Anna schon bei einer Erbse pro Mahlzeit mäkeln, hat er ein paar Zutaten. „Weg mit den Verbotsschildern!“. Zum Beispiel „Messer, Gabel, Schere, Licht...“. Rein gar nichts sei passiert, als er 70 (!) Kindergartenkinder mit Messerchen ausstattete, „die waren stolz und vorsichtig“.

Einer wie Labudda, der doch in der Welt von Rotbarbe und Rehrücken zu Hause ist, kann sich diebisch freuen, wenn Kinder die Süße einer einzigen Möhre erschmecken, ihren ersten Erdbeershake produzieren oder knackige Gemüse in Wraps wickeln, auch wenn der Franke sie lieber „Pfannkuchen“ nennt. „Und wenn sie ganz klein sind, sollen sie einfach mal mit einer Pellkartoffel anfangen. Die machen das gut, sehr gut sogar!“

Wir brauchen wieder Rituale

Wer all den Engagierten in die Töpfe guckt, sieht immer das Gleiche: dass wir wieder Rituale brauchen, dass das Allgemeinwissen übers Essen verloren geht. Und vor allem: dass man einen langen Atem braucht.

Bei Susan Buchner-Rak hat er sich gelohnt. Im Familienzentrum Michaelstraße in Wanne haben sich die Zucker-Limos und fetten Teilchen verzogen. Es regieren Käse-Karl und Puten-Paula. Das sind Brote. Sie haben ein Gesicht aus Paprika und Gurke. Es lacht vitaminreich, aber das mit den Vitaminen stört keinen KiTa-Bewohner. „Sie dekorieren die Brote selber, zeigen sich gegenseitig ihre Kunstwerke“, freut sich die Leiterin des Familienzentrums. Früher war es hier wie an jedem deutschen Esstisch: „Die Kinder haben Gemüse immer aussortiert.“

Da haben Frau Buchner-Rak und ihr Team die Idee „Keine Angst vor Brokkoli“ erfunden. Das Frühstück wurde umgestellt, die Kinder aktiviert, mit Eltern gesprochen. „Die waren heilfroh über die Initiative“, sagt Buchner-Rak, „zu Hause fanden viele die Diskussion mit den Kindern einfach zermürbend. Und dann gibt man irgendwann nach.“ In der Gruppe aber klappt es. Spaß trifft soziale Kontrolle. „Eine unserer Regeln heißt: ,Bitte einmal probieren. Gib der Speise eine Chance!’“ Das meiste bleibt drin, so wie letzte Woche, als Attila (6) den Fisch nicht hat essen wollen. Frau Buchner-Rak machte es vor, kaute und sprach: „Der schmeckt toll!“ Und der Junge fragte genüsslich schmatzend: „Mensch, Susan, warum musst Du immer recht haben?“ Neulich hat sie Beweisfotos beim Frühstück gemacht: „Manche Eltern wollten einfach nicht glauben, dass hier alle Müsli essen.“

Weder ist der Überfluss böse, noch der Mangel gut

Wir leben in einer Welt, in der die Supermärkte vor Essen bersten. So müssen sich unsere Urahnen das Paradies vorgestellt haben. Zugleich gibt es immer mehr dicke Kinder, immer mehr, die mit Zahnschäden in die Kindergärten kommen. Aber weder ist der Überfluss böse, noch der Mangel gut. Eine Welt, in der der Verzehr von Naschwerk unter Strafe steht, stellen sich selbst

Experten nicht als Garten Eden vor. „Darum sind viele Ernährungswissenschaftler ja gescheitert“, sagt Mathilde Kersting, „sie stellten Verbotsschilder auf, statt erst einmal gemeinsam zu essen.“

Gemeinsam! Wann? In einer fünfköpfigen Familie der Bundesrepublik 2013 laufen die Helden dieser Ernährungstragödie zu fünf verschiedenen Uhrzeiten zu Hause ein. Kerstings Ideal: „Ein gemeinsames Abendbrot. Aber man muss realistisch sein. Mir sagen Kinderärzte: Wir wären froh, wenn es alle zwei, drei Tage klappte.“

Noch nie haben so viele Kinder so oft auswärts gegessen 

Es ist die kalte Küche namens Wahrheit: Die Familie ist schon lange nicht mehr der heimische Herd. Noch nie haben Minderjährige so oft auswärts gegessen. Die Auslagerung ist längst eine gastronomisch-gesellschaftliche Vereinbarung. Serviert wird in Kindertagesstätten und Krippen, Grund- wie Gesamtschulen. Mal enorm engagiert, mal auf dem Niveau mieser Betriebskantinen. Und dann gibt es ja noch das Pizza-Taxi auf dem Schulhof. „Für manche“, sagt Agnes Lörks, „kommen wir vielleicht schon zu spät.“

Wissen schützt nicht automatisch. „Kinder in Deutschland können ihnen heute herunterbeten, dass ein Apfel gesund ist, dass er Vitamin C enthält und sie am besten jeden Tag einen essen – aber in der Praxis wird es selten umgesetzt“, sagt Kersting. Die Ernährung sei nicht schlechter geworden aber sie sei auch nicht besser geworden. Zu wenig Gemüse, Obst und Vollkornprodukte, viel zu viel Fleisch und Süßigkeiten – von Optimix weit entfernt.

So lernen Kinder, Wasser statt Limo zu trinken

Was Ausdauer bewirken kann, das hat Professor Kersting mit ihrem Team allerdings unlängst nachweisen können. Erstmals hat sie in großem Stil in Deutschland einfache Maßnahmen zur Verbesserung des Ernährungsumfeldes auf ihre Effekte bei Kindern aus Grundschulen untersucht. Es klingt wie eine Geschichte aus einem Entwicklungsland, aber die Forscher haben Kindern probeweise „den Zugang zu Trinkwasser erleichtert“.

Über 2500 Schüler aus Grundschulen in Dortmund und Essen, beide angesiedelt in sozial benachteiligten Vierteln, nahmen an der Studie teil. In Dortmund wurden Wasserspender, die an die Trinkwasserleitung angeschlossen waren, in den Schulen aufgestellt, in Essen nicht. In Dortmund erhielt jedes Kind eine Trinkflasche, in Essen nicht. Und im Dortmunder Unterricht wurde positiv über das Wassertrinken gesprochen: „Wir haben keine Limo verteufelt, wir haben nur positive Botschaften gesendet.“

Nach einem Jahr waren weniger Kinder in Dortmund übergewichtig geworden als in Essen. Auch hatten sie deutlich mehr Wasser getrunken – selbst zu Hause, obwohl die Eltern nicht informiert waren. Es war ihnen zur Gewohnheit geworden. Wie war das mit dem steten Tropfen?

Dass sie etwas davon in die Zukunft mitnehmen, hoffen viele, die die Kinder das Kochen lehren. „Wenn man sieht, wie stolz sie bei der Führerscheinprüfung Gäste bewirten“, sagt Annika Rehm, stimme das zuversichtlich in Zeiten, wo auch bei Erwachsenen „die Wertschätzung für Lebensmittel“ sinke. Annika Rehm ist Wissenschaftsredakteurin beim „aid“. Mit Unterstützung des Bundesernährungsministeriums bringt ihr Institut den „aid-Ernährungsführerschein“ in die Schulen. In Wanne hat die Stiftung „Lichtpunkt“ beim Kampf gegen die Angst vor Brokkoli geholfen. Wohlfahrtsverbände kümmern sich, selbst Luxushotels setzen auf Kinderkulinarik. Am Düsseldorfer Hilton gibt es einen Kinderkochkurs. 79 Euro mit Begleitperson.

Gesunde Kinder werden später gesunde Erwachsene

Wo wird das hinführen? In eine Welt künftiger Erwachsener, die ihr Leben lang Experten sind für Ernährungspyramiden und Knabbergemüse, für Brotgesicht und Schlemmerquark? Da wären sie dann alle am Ziel. Denn um gesunde Kinderernährung geht es nur im ersten Schritt. „Wenn man will, dass das Älterwerden schön ist, muss man bei Kindern ansetzen“, sagt Mathilde Kersting.

Ihr Blick in die Zukunft ist nüchtern: „Ich sehe viele Bemühungen, aber ich sehe nicht, dass diese Kinder als Eltern später einmal mehr kochen. Sie werden sich auf fertige Produkte stürzen wie es in Amerika üblich ist. Was wir heute unter Esskultur verstehen, wird nur in Nischen überleben, nicht als Tun der Massen.“

Hier gibt es praktische Tipps zum Kochen mit Kindern

Für Profis und interessierte Bürger stellt das Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung vielseitiges Informationsmaterial zur Verfügung. Dort wurde auch das Konzept der optimierten Mischkost entwickelt: ein Plan zur Verbesserung von Kinderernährung in Deutschland. Mehr dazu auf www.fke-do.de

Auch deutsche Landfrauen engagieren sich als Botschafterinnen. Sie bringen den „aid-Ernährungsführerschein“ in Grundschulen. In sechs Doppelstunden wird Wissen in Theorie und Praxis vermittelt. 580 000 Schüler haben bisher den Führerschein gemacht. Kontakt und Info: www.landfrauen.info oder www.aid-ernährungsführerschein.de