Essen. Den Blick in die Zukunft wünscht sich wohl jeder. Wir wagten den Selbstversuch und trafen die Seherin Lilo von Kiesenwetter, die keine Kristallkugel braucht, um den Menschen etwas über ihre Zukunft und Vergangenheit zu sagen.
Alles Mumpitz und Mummenschanz, Hokuspokus und Hexenwerk. „Star-Seherin sagt Ihnen Ihre Zukunft voraus“? Glaub’ ich nicht, will ich auch nicht. Das verbietet der Verstand. Wat kütt, dat kütt sowieso.– Aber trotzdem ist da diese Angst. Was, wenn das Weib was weiß? Was, wenn es zum Fürchten ist?
„Die Skeptiker sind mir die Liebsten“, sagt Lilo von Kiesenwetter und lacht ein tiefes Lachen. Hätte man seiner Fantasie erlaubt, sich eine Frau mit übersinnlichen Fähigkeiten auch nur vorzustellen, diese Seherin sähe so aus: eine raumgreifende, üppige Person, schwerer Schmuck, riesige Ringe an den Fingern. Ein mütterliches Wesen mit eher väterlicher Stimme, das schrille Brillen mag und wallende Gewänder. Aber das alles ist keine Rolle, „ich bin der Typ“. Und der Künstlername ist nicht mal einer.
„Mädschen“, hat Lilo am Telefon gesagt (auch das noch: Rheinische Frohnatur trifft auf westfälisches Unbehagen). „Nun mach dich mal nicht bang. Ich erzähl’ dir doch nichts Schlimmes.“ Aber genau das kann man schließlich nicht wissen. Oder doch? Lilo von Kiesenwetter vielleicht schon, ist ja ihr Job. Ihr Gästebuch im Netz ist voll von Menschen, die mit vollem Namen zugeben: Ich war da. Glückliche Menschen sind das meist, die dankbar melden: Alles genau so eingetroffen, wie Sie gesagt haben. Ist das Glück? Auch wenn es Unglück ist, das kommt?
Lilo von Kiesenwetter wird gefeiert seit Jahrzehnten als „bekannteste Seherin Deutschlands“, sie war in allen Zeitungen, im Fernsehen und auf den Partys des Jetsets; an ihrer Wand hängen Fotos von Musikern, Moderatoren, Schauspielern, Politikern. Guido Westerwelle, Bill Kaulitz, Ottfried Fischer, auch Hanns Dieter Hüsch und Larry Hagman – man wüsste gern, was sie denen vorausgesagt hat. Aber das darf sie nicht verraten. Und sie hat auch diesen Satz gesagt: „Sterben kann ich nicht sehen.“
Sie sieht auch keine Zahlen, wie etwa die vom Lotto: „Das wollten schon viele, aber dann säßen wir auf den Bahamas.“ Wir sitzen aber hier, in der Fußgängerzone von Siegburg bei Bonn, ein Fachwerkbau voll altem Tafelsilber, schweren Kandelabern und, ja, Heiligenbildern. Eine verwinkelte Puppenstube, in einem winzigen Moment fliegt dieser Gedanke vorbei: „Hexenhäuschen“. Durch die Küche führt der Weg ins „Beratungszimmer“. Lilo von Kiesenwetter will keine „Wahrsagerin“ sein, auch keine „Hellseherin“; sie nennt sich „Seherin“ – weil sie nur personenbezogen etwas „sieht“. Wie ein Diafilm laufe das ab in ihrem Kopf, „das geht zack-zack“, so redet sie auch: Man kommt kaum mit und nicht dazwischen. Die 58-Jährige braucht keine Kristallkugel und keine Sterne, sie interessiert sich nicht einmal für die Linien in meiner Hand.
Ihre so seltene wie seltsame Begabung hat sie schon als junge Frau entdeckt. Studentin der Psychologie war sie damals, später „ein wilder Hippie“ auf Ibiza, wo sie heute ein Haus hat. Die eigene Mutter verbannte das Kind zeitweilig aus der Familie, in der die Jungen etwas Anständiges lernten, ein entfernter Vorfahr aber Astrologe gewesen sein soll. „Du endest im Campingwagen auf der Kirmes“, warnte Mutter von Kiesenwetter, heute sitzt die Tochter oft „im Zelt im Center“. Auf ihrer jüngsten Tournee beriet die Seherin 1400 Menschen in acht Wochen, kostenlos im Einkaufszentrum. Wer ihre Zeit will und ausführliche Antworten, zahlt daheim in Siegburg 250 Euro.
Eine Kerze immerhin zündet sie an im abgedunkelten Beratungszimmer. Ich versinke in einem sehr plüschigen Sofa, über uns wacht der Heilige Geist in Form einer hölzernen Taube. Aus einem Stapel Tarotkarten (also doch!) auf einem kleinen Tischchen soll ich 15 ziehen, mit links – als ginge das einfach so: Die Hand zittert leicht, nicht nur, weil sie die schwächere ist. Über meine Zukunft wissen die Karten nichts, Lilo von Kiesenwetter in ihrem Sessel gegenüber will bloß sehen, ob sie bei mir etwas sieht. Sie sieht: sehr konkrete und sehr wahre Details aus meinem Leben und dem meiner Lieben. Ich habe nichts gesagt außer „Ja“ und „Nein“. Und überschlage innerlich, woher jemand das alles wissen kann. Google? Facebook? „Man kann“, Lilos Satz hängt noch im Raum, „nichts so schnell recherchieren, ausdenken, raten.“ Glaub’ ich nicht, will ich nicht!, erinnere ich mich selbst. Doch die Verwunderung steht mir als unsicheres Lächeln in den Augen; erst später wird Lilo erwähnen: „Nach so vielen Jahren lese ich vieles natürlich auch im Gesicht.“
„Was sie daraus machen,entscheiden sie selbst“
Manche Leute verziehen allerdings auch keine Miene. Sie sitzen, hören zu und erwarten, dass draußen im Leben alles eintrifft. „Aber sie kriegen bei mir nichts serviert, das geht nicht. Was sie daraus machen, entscheiden sie selbst.“ Mancher hat Lilo von Kiesenwetter auch schon weinend verlassen: schlechte Nachrichten. Möglich, dass sie manchmal nicht alles sagt, was sie sieht. „Aber ich muss die Wahrheit sagen.“ Und wenn es auch Schicksale beeinflusst: „Ich sehe das ja, warum soll es also schlecht sein.“
Meine Zukunft sieht zumindest nicht finster aus, in ihren Augen. Die mir vollkommen fremde Frau hat da ein paar Ängste erkannt, Schwächen, aber auch Talente und Träume. (Dass sie mich als „Schreiberin durch und durch“ sieht, darauf hätte man kommen können.) Alles in allem sind die Aussichten beruhigend. Vielleicht hat diese Seherin ja doch Recht, also, selbstverständlich nur ein ganz klein wenig? Der Pessimistin und Skeptikerin in mir hat sie jedenfalls kurzfristig die Sprache verschlagen. Noch Fragen? Keine mehr. Aber eigentlich wollte ich ja auch nie welche haben.
„In den 70ern kamen die Leute immer wegen der Liebe.“
Den Anderen, sagt Lilo von Kiesenwetter, „geht es immer nur um Geld, Geld, Geld“. Das habe sich verändert, wie sich die Zeiten geändert haben: „In den 70ern kamen die Leute immer wegen der Liebe.“ Wann kommt der Partner fürs Leben, wie kriege ich ihn, wie lange bleibt er, solche Dinge. In den 80er-Jahren bis Mitte der 90er sei es um die Gesundheit gegangen. Und heute: „Behalte ich meinen Job, kann ich mein Haus abbezahlen, kann ich mir noch einen Urlaub leisten.“ Schade, findet von Kiesenwetter: Liebesfragen waren immer ihre Lieblingsfragen. Allerdings kamen früher auch fast ausschließlich Frauen zu ihr, heute sind mehr als ein Drittel Männer. Die fragen nach der Karriere. Und nach Frauen nur, wenn ihnen eine neue dazwischengekommen ist. Offenbar sind die Menschen tatsächlich einfach zu durchschauen.
Es gebe so viele, sagt Lilo von Kiesenwetter, die glaubten, das auch zu können: Hören, sehen, fühlen, mit Geistern reden, sogar heilen, „das ist das Schlimmste“. Diese Leute machten Geld aus etwas, „das nichts ist“. Was genau aber ist das, was die Seherin da mit uns macht? „Der Glaube kann Berge versetzen.“ Kann. Der Verstand schiebt ächzend zurück.
„Und, was hat sie gesagt?“ Die Aller-Rationalsten unter denen, die diesem Selbstversuch mit Abstand und Abscheu begegnet waren, sind neuerdings die Neugierigsten. Alles Hokuspokus? Glaub’ ich nicht.