Essen. . Weihnachten ist das Fest der penlichen Geschenk. Trotzdem sollten wir weiter schenken – es macht uns nämlich erst richtig zu Menschen.

Wir schenken uns nichts in diesem Jahr. So hatte es am vergangenen Heiligabend der Familienrat verabredet: als hinter den Geschenkpapierbergen die Tannenbaumspitze gerade noch herauslugte und Oma Duisburg beleidigt war wegen der Diätpralinen und die Kinder um Lego-Klötzchen stritten. Wir würden uns das Schenken schenken. Eine Schenkpause einlegen. Uns auf das Wesentliche besinnen. Im November aber knickten die ersten ein, Kusine Tanja, Onkel Hartmut: nur eine Kleinigkeit, für die Kinder. Und ich ahne, am Ende wird es so sein wie alle Jahre: Tüten! Stapel! Taschen! Ein jeder hat sein Päckchen zu tragen.

Zu Weihnachten lassen wir uns jedes Mal aufs Neue einwickeln von einer Tradition, deren Ursprung viele kaum noch kennen. Das Geben lassen wir uns nicht nehmen. Warum nur? Das Christentum war immer schon eine Gebensgemeinschaft, auch wenn die Spielmacher der gabenbringenden Weihnachtszeit im Laufe der Jahrhunderte mehrfach ausgewechselt wurden. Schenken ist nicht nur Teil unserer sozialen Kommunikation, sondern liegt in der Natur des Menschen. Der Sinn des Gebens ist es, dem Wohl der Gemeinschaft zu dienen. Erst die Fähigkeit zum Schenken und Teilen, glaubt die Evolutionsbiologie, habe uns zu Menschen gemacht.

Manche Geschenke sind zu groß, um sie zu sehen

Was ist das eigentlich, ein Geschenk? Wir können jemandem Gehör schenken, sogar Vertrauen, wir können unser Herz verschenken oder auch eine Chance. Das Leben ist ein Geschenk, und sogar der Himmel macht welche – vielleicht aber sind gerade diese manchmal zu groß, um sie zu sehen. Deshalb erinnern wir hier auf der Erde uns gegenseitig daran: aus Liebe zum Geben.

Lassen Sie mich auspacken, ganz kurz nur. Die schönsten Geschenke, die ich in den letzten Wochen bekam, waren:

  • Ein eher fragwürdiges Gemälde meines Sohnes, das aus dutzenden krakeligen Zeilen bestand: Mama, das soll ein Buch sein, das kannst du lesen!
  • Ein Strauß Blumen plus Karte von unserem neuen Vermieter, der andauernden Bauarbeiten wegen – dabei hatten wir uns doch gar nicht beschwert.
  • Ein Parkschein, den ich – nach ewiglicher Suche endlich glücklich in einer Parklücke! – durch das Seitenfenster gereicht bekam von einem freundlichen Fremden: Ist noch eine Stunde drauf, viel Spaß beim Einkaufen!

Als ich dann exakt 57 Minuten später, genervt und gebensmüde, im Kaufhaus an der Kasse stand, kam mir ein böser Gedanke: dass dieser Parkschein womöglich schenkwürdiger war als alle meine willkürlich zusammengestapelten Präsente.

Die christliche Gebensgemeinschaft - Teilen als Prinzip 

So falsch ist der Gedanke gar nicht. Der weitergereichte Parkschein berührt im Kern das heutige Weihnachtsfest. Im Urchristentum war das Teilen Prinzip, Privatbesitz gab es nicht. Die Idee der Nächstenhilfe steckt hinter vielen christlichen Bräuchen, sagt Theologe Manfred Becker-Huberti, Honorarprofessor an der Katholisch-Philosophischen Hochschule Vallendar. So gehörte einst das „Christkindl-Einläuten“ zu Weihnachten, bei dem die Bauern eines Dorfes durch die Nachbarschaft gingen und sicherstellten, dass auch die Armen und Kranken ein würdiges Fest feiern konnten.

Ein ähnlich gebensfroher Gedanke motiviert das zusätzliche Gedeck, das in manchen Familien noch heute an den Weihnachtstagen auf den Tisch kommt: Es ist nicht nur für die Verstorbenen gedacht, sondern „auch für den Fall, dass jemand an die Tür klopft, dann könnte man ihn an den Tisch bitten”.

Im familiären Gabentauschrausch

Wie aber wurde das Weihnachtsfest, das an die Geburt Jesu erinnert, zum familiären Gabentauschrausch? Die Geschichte vom Geben und Gebenlassen beginnt in Deutschland im zwölften Jahrhundert – und zwar mit dem Nikolaus. Dieser hatte der Legende nach drei Töchtern eines armen Mannes Goldklumpen ins Haus geworfen, als Aussteuer für eine ehrenwerte Hochzeit. Auch zu Beginn des Nikolaus-Brauchtums sieht das Schenkmodell den raschen Einwurf eines anonymen Spielmachers vor – mit dem Ergebnis allerdings, dass die größten und schnellsten Kinder das meiste grabschten. „Deshalb suchte man bald Behältnisse, die den Einzelnen zuzuordnen waren”, so Becker-Huberti – und weil es im Mittelalter wenig gab, was die Kinder ganz für sich hatten, blieben Schuh’ und Strümpf‘.

Ein Fest des Gebens.
Ein Fest des Gebens. © Jamiri

Das ging so, bis Luther kam, sah und strich. „Luther passten die Heiligen nicht ins Konzept”, er wird sie alle los – bis auf Nikolaus Superstar, den Heiligen der Herzen. „Deshalb nahm Luther dem Nikolaus das Schenken, er übertrug es auf Weihnachten und erfand das Christkind“, sagt Becker-Huberti. Heute allerdings ist in den evangelischen Hochburgen der Weihnachtsmann daheim: Den die Katholiken ablehnten, weil ihn vor allem die Coca-Cola-Werbung in Europa populär machte. Da ließen sie schon lieber das evangelische Christkind ins Haus, das so zum prominenten Konvertiten wurde.

Der Weihnachtsmann aus China

Doch auch der Weihnachtsmann geht auf den Nikolaus zurück, so schreibt es Thomas Hauschild in seinem soeben erschienenen, sehr lesenswerten Sachbuch „Weihnachtsmann – Die wahre Geschichte“ (S. Fischer, 384 S., 19,99 €). Hauschild schenkt uns reinen Wein ein, er erzählt, wie Santa Claus mit seinem Rentierschlitten die Welt eroberte – und dass er einen Vorgänger im alten China hatte: Shou Xing hat rosige Wangen, eine hohe Stirn, trägt gerne rot und fährt mit einem Schlitten über die Berge, um seine Geschenke zu verteilen. Ob der amerikanische und der chinesische Gabenbringer Brüder sind? Wie auch immer ihre Entwicklungsgeschichte zusammenhängt, interessant ist, dass es offenbar einen gesellschaftlichen Bedarf gibt für komische Käuze mit roter Mütze.

Vor allem wohl deshalb, weil sie das subtile Spiel des Gebens und Nehmens durchbrechen, für das der Soziologe Marcel Mauss den Begriff „Schenkökonomie“ geprägt hat. Wie du mir, so ich dir. Dabei ist Schenken alles andere als ökonomisch. Reden wir über Geld.

Wir Gebenskünstler – die Ökonomie des Schenkens 

Wäre die Welt nicht ein besserer Ort, wenn wir uns all’ die Schenkfehler sparen würden? Oft, viel zu oft, liegen wir doch voll daneben. Was das kostet! Der Ökonom Joel Waldfogel schreibt im Buch „Warum Sie diesmal wirklich keine Weihnachtsgeschenke kaufen sollten“ (Kunstmann, 160 S., 9,90 €): Die meisten Geschenke werden vom Empfänger unter Wert geschätzt. Im Schnitt beträgt die Differenz 18 Prozent. Wir geben also zehn Euro für eine CD aus – dem Beschenkten aber wäre sie höchstens 8,20 Euro wert. Ergibt einen Wohlfahrtsverlust von 1,80 Euro! Waldfogel hat das in zahlreichen Studien nachgewiesen und auch gleich ausgerechnet: in Deutschland beträgt der Wohlfahrtsverlust einer normalen Weihnachts-Saison rund 4,7 Milliarden Euro. O, du fröhliche.

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So viel Wert wurde wohl selbst in den Geschenke-Schlachten der nordamerikanischen Indianervölker nicht verbrannt, „Potlatch“ genannt: Um die eigene Stellung zu belegen und die Ahnen zu ehren, verausgabten sich einzelne Mitglieder der Stämme regelmäßig in einem Wettstreit der Großzügigkeit. Bis hin zum wirtschaftlichen Ruin. Weshalb der Brauch in den USA und in Kanada zeitweise verboten war.

Manchem Gaul sollte man ins Maul schauen

Schenken also ist ein Risiko. Beschenkt werden aber auch. Manchem Gaul sollte man durchaus ins Maul schauen: zum Beispiel, wenn man Bundespräsident ist und Kredite fürs Backsteinheim aufnimmt. Oder wenn man als Versicherungsmitarbeiter auf Firmenkosten frivol bespaßt werden soll. Kann man denn, darf man denn Geschenke ablehnen? In diesem Fall: ja. Schwieriger wird es mit dem selbstgestrickten Pulli von Tante Hildegard: Die innerfamiliären Verwicklungen eines „Nein, danke“ sind kaum abzusehen, so etwas kann Beziehungsbande unwiederbringlich aufribbeln!

Denn auch das ist wahr: Kein Geschenk ist eine Insel. Die „reine Gabe“, die nicht auf Erwiderung zielt, die nichts zurückhaben will – die ist schöne Selbsttäuschung. Ein Geschenk drängt auf einen Bund fürs Geben oder zumindest eine Gebensabschnittsgemeinschaft. Es ruft nach Dankbarkeit, mindestens freundlichem Wohlwollen, jedenfalls nach einer Art von Antwort. Es ist, der Soziologie zufolge, Teil unserer sozialen Kommunikation, der Bindungsknüpferei.

Und selbst, wenn wir einen völlig Fremden beschenken, eine Erwiderung also ausgeschlossen ist, müssen wir unsere eigene Selbstlosigkeit hinterfragen. So wie der Ökonom Hanno Beck, der regelmäßig Bettlern Geld gibt – im Wissen, dass diese gute Tat mutmaßlich ein „emotionaler Ablasshandel“ ist. Ein Weg, das schlechte Gewissen zu mindern. Vielleicht gar notwendige Schmiere fürs gesellschaftliche Gefüge: „Eine Gesellschaft, in der Reichtum und Armut ungleich verteilt sind, dürfte früher oder später an inneren Spannungen zerbrechen. Mildtätigkeit hilft, diese Spannungen zu lindern.“ Wohl dem, der sich durchschaut – und der sich dennoch nicht ums Geben bringt. Denn erst dadurch wurden wir einst zu Menschen.

Der Sinn des Gebens: Was uns menschlich macht 

Stellen Sie sich vor, Sie bekommen 50 Euro von einer guten Fee. Stellen Sie sich vor, die gute Fee sagt Ihnen, sie sollten das Geld verschenken – ihr Nachbar aber darf das Geld behalten. Ärgern Sie sich? Müssen Sie nicht! Denn Sie werden am Abend mindestens ebenso glücklich sein wie ihr Nachbar – wenn nicht gar glücklicher. Das hat die gute Fee in Gestalt der kanadischen Psychologin Elizabeth Dunn im Experiment herausgefunden. Warum ist das so? Neuropsychologen haben vermessen, dass im Moment des Gebens dasselbe Hirnareal aktiv ist, das auch die Freude über ein Geschenk auslöst – das Belohnungszentrum.

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© WAZ

„Zu geben macht auf demselben Weg glücklich wie ein gutes Essen, ein unerwartetes Geldgeschenk oder Sex“, schreibt Stefan Klein im Buch „Der Sinn des Gebens“ (S. Fischer, 336 S., 18,95 €). Langzeitstudien hätten zudem gezeigt, dass gebensfrohe Menschen länger leben als andere, wenn sie sich in einem starken sozialen Netz für andere engagieren. „Nicht was wir von anderen bekommen, ist entscheidend“, so Stefan Klein, „sondern wie viel wir geben.“ Vielleicht wäre es an der Zeit, unser Lebens- und Gebensziel miteinander in Einklang zu bringen?

Ich schenke, also bin ich Mensch

Schon Charles Darwin hatte in seinem Alterswerk „Die Abstammung des Menschen“ bemerkt, der „soziale Instinkt“, den viele Tiere hätten, führe beim Menschen „unausweichlich zu einem angeborenen Sinn für Gerechtigkeit und Moral“. Heutige Evolutionsbiologen stimmen ihm zu: Weil der Mensch einst in Horden lebte, musste er lernen, kooperativ zu sein. Erst durch das Miteinander, das Teilen, ging es unseren Vorfahren so gut, dass sie sich die Entwicklung von großen Gehirnen „leisten“ konnten – große Gehirne brauchen nämlich, ganz platt und praktisch, viele Kalorien. Die konnten nur durch Kooperation herangeschafft werden, einer Zusammenarbeit, die ein gewisses Maß an Selbstlosigkeit verlangt. „Intelligenz, Sprache, Kultur – all diese Errungenschaften verdanken wir demnach unserem Mitgefühl und unserer Fähigkeit, uns in andere hineinzuversetzen“, so Stefan Klein. „Erst wurden die Menschen die freundlichsten, dann die intelligentesten Affen.“

Ich schenke, also bin ich Mensch: oder werde Mensch. Wie Gott, der sich selbst hergibt. Seine Menschwerdung feiern wir, alle Jahre wieder – neben der Größe dieser Gabe schrumpft selbst unser höchster Geschenkeberg, ein schrumpeliger, demütiger Versuchsballon.

Wir wollten uns nichts schenken in diesem Jahr: ach, geschenkt! Selig sind die, die noch an den Weihnachtsmann glauben, an einen, den die Liebe zum Geben treibt. Selig sind die, die mit schokoladenkeksverschmierten, gierigen Fingern Geschenkbänder aufreißen – und sich glänzenden Auges einwickeln lassen von einem magischen Moment. So schön, als hätt’ der Himmel die Erde still geküsst.