Much Wenlock. . Die ganze Welt glaubt, die modernen Olympischen Spiele hätten ihren Ursprung in Griechenland. Die ganze Welt? Nein! Ein kleiner Ort in England hört nicht auf, Widerstand zu leisten: Much Wenlock. Wir haben ihn unter die Lupe genommen.
London 2012? Pah! Schrulligkeit siegt – und die Goldmedaille hierfür geht an einen winzigen Ort bei Birmingham. Hier, und nicht in Athen, liegen nämlich die Wurzeln der modernen olympischen Spiele: Die schräge, viktorianische Dorf-Olympiade von Much Wenlock hat die Hellenen 1896 überhaupt erst dazu inspiriert, ihren Wettkampf neu aufleben zu lassen. Ehrensache, dass die Provinzbürger auch dieses Jahr wie eh und je gegeneinander antreten – und zeigen, dass Selbstgemachtes mehr Charme hat als das globale Mega-Sportspektakel, das aus ihrer Idee erwachsen ist.
„Wir sind gebeten worden, die Dorfolympiade dieses Jahr zu verschieben“, sagt Helen Cromarty, „wegen der Olympischen Spiele in der Hauptstadt.“ Schon bei dem Gedanken läuft die Sprecherin der „Wenlock Olympian Society“ zu Höchstform auf. Denn: „Uns gab es ja wohl zuerst. Wir verschieben hier nichts!“ Seit 160 Jahren schon huldigt die Grafschaft jeden Juli dem Sport, und im britischen Olympia-Jahr erst recht.
Körpertraining statt Kneipe
Helens rigorose Art kommt nicht von ungefähr. Kaum jemand kennt die unglaubliche Historie des kleinen Sprengels in Shropshire, weshalb sie an vielen Fronten Dampf machen muss. Es war immerhin der Dorfarzt William Penny Brookes, der die Olympiade von Much Wenlock 1850 ins Leben rief und sie zur Vorlage der heutigen Spiele machte.
Ein Maskottchen der Londoner Sommerspiele 2012, wegen seiner kuriosen Form als „Kreuzung zwischen Augapfel und Pinguin“ verspottet, heißt deshalb auch Wenlock. „Aber fragen Sie mal einen Londoner Souvenirverkäufer, was Wenlock bedeutet“, seufzen die Leute in Shropshire, „da ernten Sie nur ein Schulterzucken.“ Nun sind sie wild entschlossen, die Jahrhundert-Chance auf olympischen Weltruhm für Much Wenlock 2012 nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Nur wie?
Am Gasthof „The Raven“, wo alles begann, bekehrt Helen Cromarty alle Ungläubigen, die noch immer meinen, Athen hätte ein Monopol auf die Olympia-Geburt. Dorfarzt Brookes ließ hier 1850 einen kuriosen Umzug starten: Luftig bekleidete Herren zogen – zum Verdruss des Pfarrers, der sich prompt um die Sittsamkeit der Damen sorgte – hoch zum Hügel an der Windmühle. Hier sollten sie sich messen in klassischen Disziplinen, aber auch Wurfringspielen, Cricket und Fußball – und zwar unabhängig von der sozialen Schicht, zu der sie gehörten.
Eine radikale Idee für seine Ära, doch Brookes sprudelte nur so vor Reformen. Es störte ihn als Arzt, dass die Arbeiter abends von den Feldern und Fabriken in die Kneipe zogen und zu viel tranken, dass sie weder Geist noch Körper fit hielten. Ein Athletik-Spektakel sollte ihren Ehrgeiz wecken und das Rezept der heutigen Spiele ist gar nicht anders als das, was Brookes in Much Wenlock veranstaltete.
Wettkampf um ein Pfund Tee
Ein Herold in voller Kostümierung ritt durch den Ort, hinter ihm folgte die Schönheitskönigin der Grafschaft, Kapellen und geschmückte Pferdehänger. Tausende Zuschauer schlossen sich an und folgten dem Sport-Karneval auf die Wiese. Um das Volk bei Laune zu halten, servierte Brookes ihnen nicht nur ernste Wettkämpfe, für die die Herren nun immer öfter trainierten statt Biere zu heben, sondern auch erstklassiges Entertainment: Die Damen mussten im Schnellstricken oder Schubkarrenrennen konkurrieren und Alte, damals Frauen über 40, sollten um ein Pfund Tee um die Wette laufen.
„Die Sieger bekamen teure Medaillen verliehen, die Brookes in der Hauptstadt hatte fertigen lassen“, erklärt Cromarty, „ein echter Ansporn.“
Den Schuldrill ersetzte er durch Gymnastik
Die Olympiade von Wenlock war ein solcher Erfolg, das sie von da an jedes Jahr stattfand. In London veranstaltete Brookes 1866 sogar die erste nationale Olympiade, den Schuldrill ließ er durch Gymnastik ersetzen. 20 Jahre später war die Idee des Arztes so etabliert, dass ihn der junge Franzose Pierre de Coubertin in Much Wenlock besuchte, um sich Inspiration für die schlappe, heimische Armee zu holen.
Er war begeistert von der Dorf-Olympiade, plauderte ganze Nächte im Raven-Gasthaus mit dem da schon 82-jährigen Arzt. Am Ende des Besuches war das olympische Feuer offenbar übergesprungen: Coubertin gründete das Internationale Olympische Komitee und 1896 fanden die ersten modernen Olympischen Spiele in Athen statt. Brookes erlebte nicht mehr, wie sein lebenslanger Traum wahr wurde. Er liegt begraben neben der Dorfkirche, während Helen Cromarty wie ein Löwe um sein Erbe kämpft und alljährlich die Spiele von Much Wenlock fortsetzt.
Der Kontrast zum globalen Mega-Spektakel könnte dabei nicht größer sein. Während London die Hälfte der Stadt für ein milliardenschweres Olympia 2012 umbaut, wuselt Cromarty sich so durch. 15.000 Euro hatte sie letztes Jahr im Budget für ihre Dorfolympiade. Das Tontauben-Schießen sponsert der Metzger, ansonsten organisiert ein kleines Team Freiwilliger alles vom Toilettenhäuschen über den Wettkampf-Parcours bis zur Medaillenübergabe.
Für die jüngste Disziplin, nämlich das Jonglieren von Rampenlicht, Rummel und allmählich wachsendem Weltmedien-Interesse, ist das Dorf-Komitee gar nicht ausgelegt. Erste Tourbusse haben sich angekündigt. „Wir sind Opfer unseres eigenen Erfolges“, seufzt Cromarty in schwachen Minuten. „Wir wissen nicht, was uns erwartet und wie viele Gäste zu uns kommen“, gestehen Stadtbeiräte Milner Whiteman und Steve Charmley mit entwaffnender Hilflosigkeit.
Vorsichtshalber haben sie einen zusätzlichen Parkplatz gebaut und das kleine Museum eröffnet. Es gibt neue Wanderkarten, die jede Sehenswürdigkeit innerhalb von 26 Meilen, dem Standard-Marathon-Maß, abdecken. Und dann gibt es die ganz großen Erwartungen. Die Händler auf der hübschen Hauptstraße wollen profitieren. Der örtliche Tourismusverband hofft auf „Wellen-Effekte“ auch nach 2012.
Und Helen Cromarty, die rastlose Ehrenamtlerin, auf ein bisschen Anerkennung dafür, dass ihr Verein seit Jahrzehnten eine Dorf-Olympiade ausrichtet, mit der sich 2012 plötzlich das ganze Königreich schmücken will. Eines ist klar: In Much Wenlock fehlt jemand mit dem Format des Vordenkers William Penny Brookes, sein Anschub, seine Visionen und Autorität, die vielen Interessen im Dorf zu bündeln.
Verwitterte Abtei und kurvige Gassen
Wiedererkennen würde er sein Much Wenlock auf jeden Fall: In den Schenken der pittoresken 2600-Seelen-Gemeinde lodern Kaminfeuer, Fachwerk- und Kalksteinhäuschen ducken sich entlang kurviger Gassen. Der denkmalgeschützte Buchladen gehört zu den schönsten Englands. Es gibt charmante Tee-Salons, Schlangen bis auf die Straße beim Fleischer und eine grandios verwitterte Abtei.
Den Eichbaum, den Coubertin seinem englischen Mentor einst als Dank aus Frankreich geschickt hat, den gibt es auch noch. Er spendet sehr zum Stolz von Helen Cromarty an der Wettkampf-Wiese des Dorfes Schatten. Seine Früchte sind nun im Olympischen Park von London ausgesät worden.
Während die Olympischen Sommerspiele in London am 27. Juli starten, beginnt die Olympiade in Much Wenlock bereits am 8. Juli. Mehr Informationen zu den Disziplinen gibt es im Internet: www.wenlock-olympian-society.org.uk