Essen. „Rosa Winkel“ heißt ein neuer Comic, der das Schicksal Homosexueller in der Nazizeit vor Augen führt. Er zeigt eindrucksvoll, dass mit dem Ende des Krieges die Diskriminierung für sie nicht geendet hat.
Denken wir heute an die unaussprechlichen Gräuel des Dritten Reichs, scheint die Geschichte klar, denn allen ist die Ermordung von mehr als 6 Millionen Menschen jüdischer Abstammung allzu bewusst. Angesichts dieser Zahlen wirken die der anderen verfolgten Gruppen des NS-Regimes geradezu winzig. Doch ihr Leiden war es es nicht. Nicht das der politischen Gefangenen, nicht das der Sinti und Roma, der Zeugen Jehovas – nicht das der Homosexuellen. Letzteren widmen Autor Michel Dufranne und die beiden Zeichner Milorad Vicanovic und Christian Lerolle den Band „Rosa Winkel“. Die Franzosen werfen so Licht auf ein oft übersehenes Thema.
Berlin, 1932. In den letzten Tagen der Weimarer Republik lebt es sich für den Werbezeichner Andreas Müller leicht und unbeschwert. Er hat Erfolg mit seiner Kunst, malt gar Plakate für Hitlers NSDAP, er liebt das Leben, liebt Männer. In der Metropole scheint die Feindlichkeit gegen Homosexuelle ein Relikt der Vergangenheit, Andreas schläft gar mit einem Nazi. Seine Freunde wähnen sich außer Verfolgungsgefahr: „Solange Röhm und seine Sturmabteilungen über unsere Sicherheit wachen, wird es nie dazu kommen . . . Weil niemand wärmer ist als er und seine süßen Truppen.“ Mit diesen Worten wischt einer von Andreas Bekannten die Gefahr beiseite. Ein anderer meint: „Und im übrigen: Wer hat eigentlich noch unter dem Paragraphen 175 zu leiden. Du? Ich? Das Ding ist doch obsolet. Niemand bezieht sich mehr darauf.“
Ein fataler Irrtum. Genau dieser Paragraph bringt nach der Machtergreifung Homosexuelle hinter Gitter – und später auch ins KZ. So wie Andreas, der 1937 als einer der ersten nach Sachsenhausen deportiert wird, dort beim Strafkommando „Schuhläufer“ landet, die jeden Tag mehr als 30 Kilometer im Kreis laufen müssen, damit das Leder weich genug für die Wehrmacht wird.
Der Paragraph 175 galt auch noch in der neu gegründeten Bundesrepublik
Man sollte meinen, dass mit der Befreiung der Konzentrationslager und dem Kriegsende das Leiden des Andreas Müller beendet war, doch er wurde in ein Land entlassen, das Homosexuelle nicht als Naziopfer anerkannte. Und das den § 175, der homosexuelle Handlungen mit Zuchthaus ahndete, sogar noch in die Verfassung der neu gegründeten Bundesrepublik übernahm.
Dem Erzähltrio gelingt es, eindrucksvoll von einem Leiden zu berichten, das über das Trauma des nackten Überlebens des Grauens hinausgeht, eine Verfolgung, die ein Leben lang nachhallt.
- Michel Dufranne, Milorad Vicanovic, Christian Lerolle: Rosa Winkel. Jacoby & Stuart, 144 Seiten, 18 Euro