Oberhausen. . In unserem Interview spricht Peter Gabriel über die Aufbereitung seines Gesamtwerks mit Orchester, die Entblößung auf der Bühne und seine sonstigen Schrullen. Er sieht unsere Vorstellung von Kreativität im Wandel und sucht Innovationen außerhalb der Musik.

Er besitzt das berühmteste Wackelohr der Popgeschichte und hat gezeigt, wo der „Sledgehammer“ hängt. Nach Jahren der Pedanterie in seinem Kreativdorf „Real World“ treibt es den Weltmusik-Pionier Peter Gabriel wieder verstärkt auf die Bühne. Ohne Gitarristen und Schlagzeuger wird Gabriel in der Oberhausener Arena begleitet von seinem „New Blood“-Orchester aus seinem Solowerk singen – kammermusikalische und großorchestrale Arrangements von Stücken aus seinem Songkanon. Warum ihn das kurative Aufbereiten seines Gesamtwerks reizt und was ihn zum Gutmenschen befähigt, sagte er ­Michael Loesl.

Heute schon mit den Ohren gewackelt, Mr. Gabriel?

Gabriel: Nein, aber ich versuche es seit 27 Jahren ohne die Hilfe des Fadens, der für das „Sledgehammer“-Video mit einem Kaugummi an meinem linken Ohr befestigt war. Ich habe es nie aufgegeben.

Ihre letzten zwei Alben waren Orchesterwerke. Haben Sie die Popmusik als Ausdrucksvehikel Ihrer musikalischen Sprache aufgegeben?

Gabriel: Die Arbeit mit dem Orchester hat mir Türen zu karger beschallten Räumen geöffnet. Das klingt wie ein Widerspruch, weil ich mit einem Orchester im Rücken noch viel dicker auftragen kann, als mit einer Band. Trotzdem fühle ich mich als Sänger vor einem Orchester nackter als im Kontext einer Rock-Band.

Entblößung, das mutige Bekennen menschlicher Schwächen, ist Ihr zentrales Thema. Woher stammt Ihr Interesse für menschliches Verhalten?

Gabriel: Vermutlich stammen die meisten meiner Texte aus der Selbstbetrachtung. Es ist ein Vorzug des Alters, dass man besser begreift, wie man als soziales Wesen funktioniert.

Die Texte zu Ihren „New Blood“-Songs hatten Sie aber schon sehr viel früher geschrieben.

Gabriel: Ja, Psychologie interessierte mich schon, bevor ich sie selbst als Patient brauchte. Ich habe mich selten als Verhaltensgestörten betrachtet, aber oft als Außenseiter.

Hat sich dieses Gefühl mit 62 Jahren verflüchtigt?

Gabriel: Gemessen an den Reaktionen meiner Frau auf mein nächtliches Schnarchen, fürchte ich, dass ich immer noch ein Außenseiter bin. Nein, im Ernst: Es gibt nicht wenige Akteure im Popgeschäft, die es zum Zweck der Anerkennung und Bestätigung auf die Bühne trieb. Ich nehme mich da nicht aus.

Sie trieb es damals als Sänger von Genesis in einem Kleid Ihrer Frau auf die Bühne, zu dem Sie eine Fuchsmaske trugen.

Gabriel: Das war meine Crossdressing-Phase. Kostüme und Masken halfen, Teile meiner Persönlichkeit zu zeigen, für deren Offenbarung ich im wirklichen Leben zu verklemmt war.

Ihre weiblichen Charakteranteile?

Gabriel: Von denen besitze ich eine ganze Menge. Aber ich offenbarte ja vor allem die schrulligen Anteile meiner Persönlichkeit als ich eine Blumenmaske trug.

Viele Leute finden es schrullig, dass sich Popstars beim Weltwirtschaftsforum in Davos tummeln. Was befähigt Sie dazu, mit Milliardären über die Entschuldung von Afrika zu diskutieren?

Gabriel: Dort sind während des Weltwirtschaftsgipfels auch viele Wohltätigkeitsorganisationen anwesend, deren Ideen zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage armer Länder Sprachrohre brauchen. Ich reise als Sprachrohr und Diskussionsteilnehmer dorthin.

Sie erreichten viele Ihrer Ziele mit ihrem Sturkopf.

Gabriel: Wollen Sie nicht mal mit meiner Frau reden? Die würde Ihnen glatt zustimmen.

Im Ernst. Als es für Genesis erstmals gut lief, stiegen Sie aus. Als Sie mit dem „So“-Album Millionen verdienten, steckten Sie das Geld in ein Aufnahmestudio, um Musikern aus Pakistan und Afrika den Weg zur Popularität zu ebnen.

Gabriel: Vergessen Sie nicht, dass ich von all dem profitierte. Vielleicht nicht in finanzieller Hinsicht, aber ganz sicher in Sachen Kreativität. Ich war im Popgeschäft mal ein fetter Hecht, heute bin ich in der Mittelliga angekommen und befinde mich auf dem Weg, für die großen Plattenfirmen uninteressant zu werden.

Hat Musik als soziales Medium ausgedient?

Gabriel: Nein, und sie wird als gesellschaftliches Barometer auch nie ausgedient haben. Nur, weil Musik heute wesentlich weniger Millionen Euro oder Dollar bewegt, ist sie nicht weniger relevant. Im Gegenteil, es wird immer mehr Musik gehört.

Wann wird es neue Musik von Ihnen zu hören geben?

Gabriel: Meine Orchester-Konzerte bestehen aus neuer Musik. Wir spielen ein paar ältere Songs, aber wir machen sie neu erfahrbar mit den Klangfarben des Orchesters.

Damit werden Sie aber vom vielgepriesenen Innovator zum Kurator.

Gabriel: Unsere Vorstellung von Kreativität ist im Wandel. Im kurativen Betrachten eines Kunstwerks liegt die Chance zur Neudefinition. Ich finde diesen Prozess spannend und glaube, dass wir zur ursprünglichen Form des Kreativseins zurückkommen werden. Aber dafür müssen wir reflektieren. Innovativ kann ich auf vielen anderen Gebieten bleiben, die mich interessieren.

Kennen Sie nach 40 Jahren auf der Bühne noch Unsicherheiten?

Gabriel: Ich bin mit dem Orchester dabei, mich den Unsicherheiten zu stellen. Ich war nie so exponiert auf der Bühne wie bei den aktuellen Konzerten.

  • Peter Gabriel: Live Blood (Eagle Rock/EMI) Live: 3.5. Oberhausen, Arena, Restkarten an der Abendkasse