Essen. Die Hör- und Sehgewohnheiten im Pop hat Peter Gabriel mehr als einmal auf den Kopf gestellt - nachdem er vor 30 Jahren seine Solo-Karriere startete. Dieser experimentierfreudige Sonderling und prominente Förderer der "Weltmusik" feiert Samstag seinen 60. Geburtstag.
Kurz nach seinem selbst gewählten Ende als verkleidungswütiger Frontmann von Genesis, kletterte Peter Gabriel auf einen Hügel in der Nähe seines Hauses und machte diesen im Handumdrehen weltberühmt: „Solsbury Hill“. In den drei Jahrzehnten seiner Solo-Karriere hat Gabriel mehr als einmal die Hör- und Sehgewohnheiten des Pop auf den Kopf gestellt und revolutioniert. Als experimentierfreudiger Sonderling, prominenter Förderer der so genannten „Weltmusik“, High-Tech-Handwerker, Video-Künstler und Hitlieferant. Freitag erscheint sein neues Album – und Samstag feiert er seinen 60. Geburtstag.
Können Sie wirklich, wie es im meistgespielten MTV-Clip aller Zeiten, „Sledgehammer“, zu sehen ist, mit den Ohren wackeln?
Peter Gabriel: Nein. (lacht) Mir wurde für diese Sequenz ein dünner Faden mit Kaugummi an die Rückseite meines Ohrs geklebt. Ich kann andere Dinge mit meiner Anatomie machen. Aber die möchte sicher niemand von einem in meinem Alter vorgeführt bekommen.
Blicken Sie gelegentlich zurück auf Ihr Lebenswerk?
Gabriel: Mein Anwalt zeigte mir kürzlich einen Versicherungskalkulator, mit dem Lebensjahre statistisch errechnet werden. Ich kann laut dieser Tabelle, durchschnittlich betrachtet, noch mit 24,7 Lebensjahren rechnen. Da darf man noch mehr Musik von mir erwarten.
Sie lassen die Fans allerdings immer lange auf ein neues Album warten, manchmal vergehen zehn Jahre…
Gabriel: Ich weiß und ich gelobe Besserung. Aber das Experimentieren an Sounds und der visuellen Umsetzung von Musik spielt für mich als Künstler eine mindestens genau so große Rolle wie das Songwriting selbst. Ich habe mich nie nur als Musiker empfunden, sondern habe immer nach Möglichkeiten gesucht, meine Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern.
Sie besitzen ein 16 Millionen Euro teures Kreativdorf in der englischen Kleinstadt Box, sind an Musik-Online-Diensten beteiligt, importieren Adobe-Baustoffe aus New Mexiko, besitzen ein Weltmusiklabel und haben zusammen mit Bonobo-Affen Musik gemacht. Führen Sie ein normales Leben?
Gabriel: Für mich fühlt es sich normal an. Ich kann Musiker, Denker, Architekten treffen, die mich interessieren und mit ihnen zusammenarbeiten. In der Hinsicht unterscheidet sich mein Leben sicher von dem vieler anderer Leute. Aber ich habe mich auch mit völlig normalen Dingen zu beschäftigen. Beziehungen, Vaterschaft und finanzielle Angelegenheiten. Mein Leben schließt die Realität nicht aus. Aber ich gestalte sie mir interessant.
Was haben Sie über die Menschenaffen erfahren als Sie die zum gemeinsamen Musikmachen angestiftet hatten?
Gabriel: An der Universität von Georgia hat man herausgefunden, dass Menschenaffen durchaus linguale Intelligenz besitzen und durch Zeichensprache mit uns kommunizieren können. Vieles davon ist sehr poetisch. Ich wollte herausfinden, ob sie auch musikalische Intelligenz besitzen. Obwohl die Affen vorher nie ein Keyboard gespielt hatten, sondern mich nur beim Spielen beobachteten, begleiteten sie mich auf bereitgestellten E-Pianos.
Das erstaunliche Resultat war, dass sie logische Akkordfolgen und Harmonien spielten, die von künstlerischer Intelligenz zeugen. Die Affenweibchen spielten sehr getragene Harmonien, aber ihr Bruder Kanzi sprang an dem Keyboard herum wie James Brown. Wenn ich mir die Charts anschaue, sehe ich leider nicht mehr viel von künstlerischer Intelligenz. Die Trivialisierung der Popkultur ist erschreckend.
Wie könnte die Verflachung aufgehalten werden?
Gabriel: Je älter ich werde, desto wichtiger erscheinen mir Kunsterziehung und pädagogische Wirkung. Die Resultate der Marginalisierung des Kunst- und Musikunterrichts in unseren Bildungssystemen, sehen wir in der Tat anhand der Trivialisierung unserer Kultur. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass bestimmte Teile des Gehirns bei Künstlern und Musikern um das Zehnfache weiter entwickelt sind als bei Nichtkünstlern. Das ist für mich ein Beweis dafür, dass Kunst zusätzliche Intelligenz schafft, die ebenso für alles Andere nutzbar ist. Vernachlässigt man die Kunsterziehung, stoppt man die Entwicklung zusätzlicher Gehirnzellen.
Mit Ihren Videos zu „Steam“ und „Sledgehammer“ schafften Sie es, aus einem relativ flachen Medium eine Form von Kunst zu machen. Sind die Zeiten dafür vorbei?
Gabriel: Innovation und Exzellenz passen nicht mehr in die gängigen TV-Formate. Stattdessen wird viel Mist beklatscht und die Popkultur wird auf den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert. Die Popmusik hat ihre Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung verloren. An ihre Stelle könnte jetzt das Internet treten, weil es noch ein völlig demokratisches Medium ist, an dessen Entwicklung jeder teilhaben kann. Nicht das Netz diktiert die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft diktiert das Netz. Das ist spannend.
Stimmt es dass sie mit einem Kajak in Ihr Studio paddeln, das an einem kleinen Fluss gelegen ist?
Gabriel: Ich könnte, wenn ich wollte, aber ich nehme Rücksicht auf die Angler, die in dem Fluss fischen. Hin und wieder paddele ich ins Studio. Aber ich sollte es öfter tun, denn es wird immer schwieriger für mich körperlich in Form zu bleiben. Und italienisches Essen, was ich liebe, hilft dabei leider nicht. Die Köchinnen hier in meinem Studio nennen mich schon spöttisch „Eater Gabriel“.
Wird man Sie denn auch mal wieder in Ihren alten Kostümen auf der Bühne sehen können?
Gabriel: Nein, ganz sicher nicht. Dass ich damals bei Genesis als Fuchs oder Blume auftrat, hatte ganz pragmatische Gründe. Das Stimmen der zwölfsaitigen Gitarren dauerte Ewigkeiten, was die Pausen zwischen den Songs unerträglich lang werden ließ. Um die Situation aufzulockern, erzählte ich den Zuhörern kleine Fantasiegeschichten, die unterstützt von den Kostümen eine Eigendynamik annahmen. Für mein erstes Fuchs-Kostüm borgte ich mir ein Kleid meiner damaligen Frau, das sie anschließend nie wieder sah. Ich besitze es noch, passe aber längst nicht mehr hinein. Meine „Cross-Dressing“-Zeiten sind also passé.