Essen. .
Zum Jahrestag erscheint Art Spiegelmans Comic über das Trauma des 11. Septembers nun erstmals vollständig auf Deutsch: „Im Schatten keiner Türme“ ist ein Dokument des Haderns und des Zorns.
Art Spiegelman wohnt ein paar Blocks nördlich vom World Trade Center, seine Tochter geht in eine Schule in unmittelbarer Nähe der Zwillingstürme, sein Sohn besucht die UN-Schule. Als die Flugzeuge kommen, nimmt ein Trauma seinen Anfang, das ihn bis heute nicht losgelassen hat. Doch anders als vielen New Yorkern gelingt es dem Comic-Künstler, den Schockzustand in beeindruckende Dokumente zu verwandeln. So erscheint nur sechs Tage nach den Anschlägen auf dem „New Yorker“ Spiegelmans berühmtes Titelbild, das die Türme nur als tiefschwarze Silhouetten vor einem schwarzen Hintergrund zeigt.
Es war der Beginn einer qualvollen Zeit für den Großstadtneurotiker Spiegelman im Bemühen, die Erlebnisse zu verarbeiten und die Zustandsbeschreibung des Landes nach den Anschlägen zu liefern. Das Werk trägt den Titel „Im Schatten keiner Türme“ und erscheint zum zehnten Jahrestag der Anschläge erstmals vollständig auf Deutsch. Bis zum August 2003 konzipierte und zeichnete Art Spiegelman lediglich zehn hochformatige Seiten, die international etwa in der Wochenzeitung Zeit veröffentlicht wurden – in unregelmäßigen Abständen, weil Spiegelman sich mit den Arbeiten so schwer tat und so viel Arbeit hineinsteckte, dass er nicht einmal einen monatlichen Rhythmus einhalten konnte. Zehn Seiten aber, bei denen jeder Strich sitzt und jeder Gedanke besticht.
„Ich mochte diese arroganten Kisten nie, aber jetzt vermisse ich die beiden Halunken, diese Ikonen einer unschuldigeren Ära“, beschreibt Spiegelman und bringt seinen Zwiespalt auf den Punkt: „Wenn es nicht diese Tragödie und die Toten gegeben hätte, könnte ich mir diesen Angriff als eine Art radikale Architekturkritik vorstellen.“
Kritik an der eigenen Regierung
Das glühende Gerippe des Nordturms kurz vor dem Zusammensturz wird für Spiegelman zum Leitmotiv der Seiten, bei denen er nicht mit Kritik an der eigenen Regierung spart – einer Regierung Bush, die von einer Minderheit der Amerikaner gewählt worden war und nur wegen des komplizierten amerikanischen Wahlmännersystems ins Amt kam.
Spiegelman nutzt zudem das einzige, was ihm in jenen schweren Tagen Halt gibt, nämlich historische amerikanische Comics, um die Situation Amerikas zu skizzieren. Er bemüht Hogan’s Alley, die Katzenjammer Kids und Lionel Feiningers Kinder Kids ebenso wie Happy Hooligan, typische Immigrantenfiguren, die alle nur ein paar Straßenblöcke entfernt etwa 100 Jahre vor den Anschlägen erfunden wurden. Mit ihrer Hilfe geißelt er den Wahnsinn des Irak-Kriegs und die Ablenkungsmanöver der Politik. „Als die Flugzeuge in die Türme gekracht sind, wurde ich in eine Parallelwelt katapultiert, in der George W. Bush Präsident war“, stellt er entsetzt fest.
„Das alte tödliche Business as usual“
Jede Seite von „Im Schatten keiner Türme“ ist ein Dokument des Haderns und des Zorns, vor allem mit der eigenen Regierung: „Die Killer-Affen haben nichts gelernt von den Twin Towers, von Auschwitz und Hiroshima . . . und nichts hat sich am 11. September geändert. Sein ,Präsident’ führt seine Kriege und bekriegt die Armen – das alte tödliche Business as usual.“
Heute wohnt Art Spiegelman paar Blocks nördlich von Ground Zero, seine Kinder wohnen nicht weit entfernt. Das Trauma beschrieb er im Jahr 2004: „Und auch drei Jahre danach laufe ich immer noch Gefahr, urplötzlich durchzudrehen. Ich glaube immer noch, die Welt geht unter, aber ich gebe zu, dass sie langsamer unterzugehen scheint, als ich angenommen hatte . . .“
- Art Spiegelman: Im Schatten keiner Türme. Atrium-Verlag, 42 Seiten, 34,90 Euro