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Keine Steuererklärung geht leichter von der Hand als jene, die man erst morgen in Angriff nehmen will. Keine Garage baut man so mühelos wie die, für welche erst nächste Woche der erste Stein bewegt zu werden braucht. Und kein Vergnügen ist so süß wie jenes, das man mühevoller Arbeit just in diesem Moment vorziehen kann. „Was du heute kannst besorgen, was dich niemand zwingt zu tun, das verschieb getrost auf morgen, heute lass die Hände ruhn“ – so ließe sich das allzu menschliche Phänomen in Gedichtform schildern. Wissenschaftler nennen es nüchtern Prokrastination – was von den lateinischen Wörtern „pro“ und „cras“ kommt und so viel bedeutet wie „für morgen“.

Man kennt es von den angeblich so guten Vorsätzen in der Silvesternacht. Geradezu umstürzlerisch kündigen Millionen Bundesbürger jedes Jahr an, ihr Leben vom Kopf auf die Füße stellen zu wollen: keine Zigaretten mehr (außer der einen, die man – quasi zum Abschied – gleich noch rauchen wird), endlich weniger Überstunden und jetzt aber wirklich ran ans Werk beim hundertmal geplanten Traumhaus. Dabei wäre es bei vielen Menschen zur Abwechslung ein richtig guter Vorsatz, keinen mehr zu fassen.

Denn je mehr Absichten man erklärt, umso schwieriger wird es, auch nur eine davon umzusetzen. „Jeder Vorsatz erhöht die Handlungshemmung, weil er das Gedächtnis für unerledigte Absichten belastet“, urteilt der Persönlichkeitsforscher Julius Kuhl von der Universität Osnabrück. Der Gedächtnisspeicher für Unerledigtes wächst an wie der Papierstapel auf dem Schreibtisch: Auch dort sinkt mit jeder neuen Akte die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Gebirge jemals schrumpfen wird. Irgendwann kommt es dann auf weitere zehn Vorsätze beziehungsweise Schriftstücke auch nicht mehr an.

Noch ein Kapitel . . . Und noch eins . . . Der Abwasch kann warten.Foto: Kai Kitschenberg/ WAZ FotoPool
Noch ein Kapitel . . . Und noch eins . . . Der Abwasch kann warten.Foto: Kai Kitschenberg/ WAZ FotoPool © WAZ FotoPool

Eine derart „erhöhte Handlungshemmung“ sei nur dann kein Problem, „wenn man über sehr gute Selbstmotivierungsfähigkeiten verfügt“, sagt Kuhl. Am besten, man gewöhnt sich an, das Nötige oder fest Beschlossene „sofort zu erledigen“, rät der Psychologe. Doch viele Menschen schaffen gerade das nicht. Und nicht wenige von ihnen sind an Universitäten eingeschrieben.

Die Steuererklärung?

Nicht umsonst versammelten sich in diesem Jahr Studenten mehrerer Universitäten zum wiederholten Mal zu einer gemeinsamen „Langen Nacht gegen aufgeschobene Hausarbeiten” – organisiert von eigens eingerichteten Uni-Schreibzentren, die von „Aufschieberitis“ Geplagte dabei beraten wollen, wie man „exzellent schreibt“, ohne sich zu Plagiaten hinreißen zu lassen. Wer universitäre Schreibzentren nutzen könne, müsse „keine Angst vor Überforderung haben“, sagt Katrin Girgensohn, die wissenschaftliche Leiterin des Schreibzentrums der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Entgegen einem Vorurteil sind notorische Aufschieber in aller Regel keine Faulpelze. „Jemand, der zum Aufschieben neigt, weiß, dass er ein Problem hat“ – und das sei ein „wesentlicher Unterschied“ zur Faulheit, befindet Fred Rist. Der Psychologe von der Universität Münster hat sich intensiv mit dem für viele Menschen sehr ernsten Problem beschäftigt und 2009 eine spezielle Ambulanz für Betroffene eingerichtet. „Ein Aufschiebender schaut sich gewissermaßen selber bei seinem Verhalten zu, ist aber ratlos“, sagt Rist. Verdrängt werde das Problem keineswegs. „Verdrängt wird aber immer wieder, sich mit persönlich wichtigen Aufgaben zu beschäftigen.“ Etwa mit der Steuererklärung, die noch zu erledigen ist. Dann sage sich der Betreffende tagsüber, „heute mache ich mich endlich dran, doch wenn er abends nach Hause kommt, wird er wieder andere dringende Dinge finden, die er vorziehen kann“.

Lieber putzen

Begründungen sind schnell zur Hand – das Abendessen oder das erst einmal nötige Ausruhen von der Arbeit. „Andere Betroffene erledigen sogar lieber Unangenehmes, das liegengeblieben ist“, hat Rist oft erfahren müssen. „Sie schreiben Briefe, putzen die Wohnung, räumen den Kühlschrank aus. Doch was eigentlich zu erledigen war und am Morgen noch eine beschlossene Sache schien, tritt immer weiter in den Hintergrund.“

Wer das Verrichten einer Arbeit oder die Lösung eines Problems vertagt, handelt übrigens völlig normal. „Wir müssen das oft tun, denn sonst kämen wir im Leben gar nicht zurecht“, sagt der Aufschub-Experte. „Wir müssen nämlich imstande sein, unsere Prioritäten zu ändern.“ Deshalb wende sich die Münsteraner Spezial-Sprechstunde gezielt an Menschen, „die unter ihrem Verhalten leiden und durch chronisches Aufschieben mit ihrem Leben immer schlechter zurechtkommen“. Das seien in erster Linie Studierende.

Ohne Ziel auch kein Ergebnis

Auch viele Freiberufler schieben vor sich her, was das Zeug hält – Menschen also, die keiner festen Tages- und Arbeitsstruktur unterliegen und keine Vorgesetzten oder Kollegen als äußere Taktgeber haben. Auf eine aufwändige Reportage, ein bestelltes Gemälde oder ein kompliziertes Gutachten könne der damit Befasste „erst einmal wochen- oder monatelang hinarbeiten, ohne dass jemand vom ihm ein Ergebnis fordert“, erklärt Rist das Besondere an solchen Aufträgen. „Da ist die Gefahr des Aufschiebens groß.“

Was genau die Ursache des Nicht-in-die-Gänge-Kommens ist, muss individuell ermittelt werden, doch oft sind es „tiefer sitzende Probleme“, sagt Hans-Werner Rückert, der die psychologische Beratungsstelle der Freien Universität Berlin leitet. In seinem Ratgeber „Schluss mit dem ewigen Aufschieben“ (Campus Verlag, 302 Seiten, 19,50 Euro) hat der Psychologe Ausreden aufgelistet, mit denen das Verschieben gerne begründet wird: Manchen fehlt gerade einfach die Zeit, und so dringend ist die Sache ja ohnehin nicht – morgen ist schließlich auch noch ein Tag. Andere wissen schlicht nicht, wo oder womit sie beginnen sollen oder finden die Aufgabe „zu anstrengend“. Eine dritte Gruppe sage sich: „Ich arbeite unter Druck sowieso besser, also mache ich es später.“

Die Erwartungen sind zu hoch

Perfektionismus, mithin die Sorge, das Arbeitergebnis könne nicht optimal sein, scheint keine bedeutsame Ursache der Aufschieberei zu sein – „obwohl genau das in allen Ratgebern so steht“, merkt Fred Rist an. „Bei unseren Untersuchungen fanden wir als wichtigeren Grund die externen Ansprüche an die Arbeit – zum Beispiel Erwartungen der Eltern an die Note für die Diplom- oder Doktorarbeit.“ Auch die Angst vor dem Versagen und davor, für die abgelieferte Arbeit beurteilt zu werden, spiele eine große Rolle fürs Aufschieben.

Besonders raffiniert erscheint ein Akt der Selbstbehinderung, der ebenfalls hinter dem Aufschieben stecken kann: Wer Angst hat, das Ziel nicht oder nicht gut genug zu erreichen, kann sich sagen: Ich fange spät mit der Arbeit an; dann wird meine Leistung nicht gut, aber ich kann mir einreden, sie wäre besser gewesen, wenn ich früher angefangen hätte. „Das ist eine Art Selbstschutz-Manöver für ein ansonsten gefährdetes Selbstwertgefühl“, so der Inhaber des Münsteraner Lehrstuhls für Klinische Psychologie und Psychotherapie. Immerhin kann das vermeintliche Genie so weiter davon träumen, irgendwann als Geistesgröße erkannt zu werden.

Wenn aus der Neigung ein Gesundheitsrisiko wird

Wann aber wird aus der Neigung zum Handlungsaufschub ein echtes Gesundheitsrisiko? „Es gibt da eine gut festzulegende Grenze, ab der es krankhaft wird, weil echtes Leiden beginnt“, sagt Rist. „Sie liegt dort, wo man mit sich selber unzufrieden wird, das Leben durcheinander gerät, man andere belügen muss oder der Lebenspartner das Aufschieben nicht mehr erträgt.“

Wer beispielsweise das Gefühl habe, praktisch nie mehr als die Hälfte dessen zu erreichen, was realistischerweise erreichbar wäre, der leide in der Tat unter seinem Aufschieben. Ein niedergedrücktes Selbstwertgefühl, Hoffnungslosigkeit und nicht zuletzt Scham seien typische Anzeichen für diese schwere Form eines krankhaften Aufschiebeverhaltens. Sie fachgerecht zu behandeln, verträgt dann wirklich keinen Aufschub mehr.

Selbsttest zum Thema „Aufschieben“ der Universität Münster