Essen/Münster/Kiel. Wenn das alte Leben nicht mehr passt: Drei Menschen erzählen von Wendepunkten im Leben und warum sie einen beruflichen Neustart gewagt haben.
Manche Menschen lassen ihr altes Leben hinter sich und wagen einen beruflichen Neuanfang. Drei Menschen, die den Mut hatten, etwas Neues zu wagen, erzählen von ihren persönlichen Wendepunkten im Leben. Sie berichten, wie sie den Umstieg erlebt haben, wie es ihnen damit geht und was sie heute glücklich macht.
Auf nach Norddeutschland: Warum es eine Mediengestalterin in die Natur verschlägt
Wenn Sara Steinert (40) vor ihrem Computer sitzt und Illustrationen baut, fragt sie sich manchmal, warum sie das eigentlich macht. „Ich bin den ganzen Tag drinnen, muss Pixel hin und her bewegen und bekomme dabei nicht mal mit, wie das Wetter ist“, sagt sie. Die Arbeit als Mediengestalterin erfüllt sie nicht mehr. Und bis zur Rente möchte sie nicht in einem Job bleiben müssen, der sie nicht glücklich macht.
Mit ihrem Leben in der Stadt fühlt sie sich auch nicht mehr wohl. Zehn Jahre lang lebte sie in Großstädten – erst in Duisburg, dann in Essen. Zwischendurch probierte sie auch Berlin aus. Doch mittlerweile fühlt sich die 40-Jährige zwischen Betonbauten, Autos und den vielen anderen Menschen eingeengt. Wie unzufrieden sie mit ihrem Leben ist, habe sie zum ersten Mal vor drei Jahren gemerkt. Sie sprach mit ihrem Vater über das schlechte Wetter im Sommer. Dabei waren die letzten Wochen alles andere als schlecht: Die Sonne lud dazu ein, nach draußen zu gehen oder sich aufs Motorrad zu setzen. „Du hast es nur nicht mitbekommen“, sagte ihr Vater, „weil du immer im Büro bist.“
Heute sieht Steinert dieses Gespräch als Auslöser dafür, dass sie etwas in ihrem Leben ändern wollte. Aufgewachsen in einem Dorf am Niederrhein, war die gelernte Mediengestalterin schon immer sehr naturverbunden und hat ein Herz für Tiere. Also fing sie im vergangenen Jahr an, ehrenamtlich im Wildgehege im Essener Grugapark zu arbeiten. Damit wollte sie einen Ausgleich zu ihrem Bürojob finden. Zwei bis drei Mal die Woche fuhr Steinert dorthin. Tiere füttern, Zäune reparieren, Ställe ausmisten – all das gehörte zu ihren Aufgaben. „Wenn ich danach ins Büro fahren musste, habe ich oft gedacht, dass ich lieber den ganzen Tag knietief im Matsch stehen würde“, erzählt sie.
Den Entschluss, ihren Bürojob aufzugeben, habe sie dann recht schnell gefasst. Jedoch wollte sie sich noch nicht festlegen. Also kam ihr die Idee, für ein halbes Jahr gegen Kost und Logis auf verschiedenen Höfen in Norddeutschland zu arbeiten.
Käserei, Archehof und Co.: Ein halbes Jahr Zeit zum Ausprobieren
Als erstes verschlägt es sie auf einen Ziegenhof. Dort hilft sie unter anderem in der hauseigenen Käserei, arbeitet im Stall und unterstützt beim Getreideanbau. Auf einem Archehof hilft sie dabei, alte Tierarten zu erhalten und probiert sich bei einem Gemüsebauern im Hofladen aus. Ein halbes Jahr nimmt sie sich Zeit, um Verschiedenes auszuprobieren. Geld verdient sie dabei nicht. Sie lebt ausschließlich von ihrem Erspartem.
Ob Steinert Angst vor diesem Schritt hat? In Bruchteilen. Denn ihr sei bewusst, dass sie das vermeintlich „sichere Hamsterrad“ verlasse. „Ich bin aber auch optimistisch“, sagt sie. Von Familie, Freunden und Bekannten bekommt sie hauptsächlich Zuspruch für ihren Weg. Denn für die 40-Jährige ist es nicht das erste Mal, dass sie einen Neuanfang im Leben versucht. Vor sechs Jahren kündigte sie schonmal ihren Job. Für einige Wochen reiste sie auf ihrem Motorrad durch Westeuropa. Von den Niederlanden, über Belgien schaffte sie es schließlich nach Bordeaux.
Deswegen sei es ihr Umfeld schon gewohnt, dass sie etwas Neues ausprobiert. „Mein größter Kritiker war anfangs mein Vater. Für ihn musste der Lebenslauf linear sein“, sagt sie. In den letzten Jahren habe sich seine Meinung dazu geändert. Inzwischen finde er gut, was seine Tochter macht. Für Sara Steinert ist das nächste halbe Jahr ein Experiment, mit dem sie einen neuen Lebensentwurf ausprobieren möchte. Was danach kommt, hält sie sich bewusst offen.
Neuanfang nach dem Arbeitsleben: Warum ein Rentner wieder in der Uni sitzt
Betritt Rainer Broda den Hörsaal an der Universität Kiel, könnte man denken, er ist der Dozent. Doch anstatt sich an das Rednerpult zu stellen, sitzt der 78-Jährige zwischen 20-jährigen Studierenden. Als Rentner hat er sich noch einmal eingeschrieben. Inzwischen hat er den Bachelorabschluss in Kunstgeschichte, europäischer Ethnologie und Kommunikationswissenschaften. Den Master machte er in Religionswissenschaften und Ethik. Sein nächstes Ziel ist der Doktortitel.
Bevor Broda für den Bachelor in Kunstgeschichte an die Kieler Universität kam, wagte er schon einige Male einen Neuanfang in seinem Berufsleben: Er arbeitete als Matrose, war Speditions- und Reedereikaufmann, verpflichtete sich für vier Jahre bei der Bundeswehr und studierte anschließend in den 70er-Jahren BWL. Schon früh machte er sich Gedanken, was nach seinem Arbeitsleben kommen sollte. Sich zur Ruhe zu setzen, kam für ihn nicht in Frage. „Ich wollte vermeiden, mit dem Rentenbescheid in ein Loch zu fallen“, sagt er. Also habe er sich überlegt, wo seine Interessen und Fähigkeiten liegen.
In Familienurlauben habe er regelmäßig Museen, Galerien und Schlösser besucht und sich für Kunst interessiert. Die Familie habe ihn schließlich ermutigt, sich an der Universität einzuschreiben. „Für mich war aber klar, dass ich nicht nur studieren wollte, um etwas vorzuhaben. Ich wollte auch einen Abschluss machen“, erzählt Broda. Denn um fit zu bleiben, wollte sich der 78-Jährige weiterhin fordern.
Rainer Broda: „Ich habe Wissensdurst“
Auch nach seinem Bachelorabschluss 2015, dachte er nicht daran sich auszuruhen. Also schrieb er sich für den Master in Religionswissenschaften und Ethik ein. Die Frage nach dem Glauben an Gott habe ihn gereizt. „Ich habe Wissensdurst“, sagt er, „und ich habe mich immer gefreut, wenn ich morgens aufgewacht bin, weil ich wusste, dass ich klüger geworden bin.“
Trotz des großen Altersunterschieds zu seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen hatte Broda keine Bedenken. Denn er ist sich sicher, dass er gut mit Menschen umgehen könne. Es habe sich gezeigt, dass sich die jüngeren Studierenden für ihn und seine Lebenserfahrung interessierten. „Wir gehen mittags zusammen in die Kantine oder abends in die Kneipe“, so der Rentner.
Der Neuanfang nach dem Ruhestand war für Rainer Broda der richtige Weg. Durch das Studium könne er sich nicht nur weiterbilden. Er genieße auch den sozialen Austausch mit den Kommilitoninnen und Kommilitonen. In ein Loch ist er nach dem Arbeitsleben nicht gefallen.
Die eigene Chefin sein: Selbstständigkeit nach jahrelanger Unzufriedenheit
In der Schule war sie Überfliegerin und übersprang eine Jahrgangsstufe. Nach dem Abitur studierte sie Gesundheitsökonomie. Dann stieg Hella Kocks (32) ins Berufsleben ein. Es folgten sechs Jahre ständiger Jobwechsel. Unter anderem arbeitete sie in der Verwaltung einer Uniklinik, bei einer Agentur für Ärzteberatung und wechselte in das Personalwesen. Doch sie merkte, dass ihr der Arbeitsalltag nicht gefiel: „Ich bin nicht der Typ dafür, acht Stunden am Schreibtisch zu sitzen und auf den Bildschirm zu schauen. Es hat mir keine Freude bereitet“, sagt sie.
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Zudem seien die Strukturen in ihrer Branche starr gewesen. Das Gefühl nichts ändern zu können, hat die 32-Jährige belastet. „Ich habe keinen Sinn in meinem Job gesehen. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass ich mehr auf dem Kasten habe. Meine Arbeitskraft wollte ich nicht nur nutzen, um Geld zu verdienen. Ich wollte mehr machen als Dienst nach Vorschrift“, erzählt sie.
Jahrelang hatte Kocks mit Zukunftsängsten und Selbstzweifeln zu kämpfen. „Ich habe ja gesehen, dass meine Kommilitoninnen und Kommilitonen den Master gemacht haben, tolle Jobs in großen Konzernen angenommen haben oder befördert wurden. Während ich alle paar Monate den Job gewechselt habe. Da habe ich mich gefragt, was mit mir nicht richtig ist.“ Sie hätte das Gefühl gehabt, versagt zu haben.
Spontane Kanada-Reise bringt den Wendepunkt im Leben
Von einigen Freundinnen und Freunden wurde sie in dieser Zeit nicht ernst genommen. Sie hätten sie belächelt, wenn sie wieder einen neuen Job anfing. Ihr damaliger Partner konnte ihre Situation nicht nachvollziehen. Von ihren Eltern sei sie zwar immer unterstützt worden, aber sie hätten sich gewünscht, ihre Tochter käme „in die Spur“.
Der Wendepunkt in ihrem Leben war eine spontane Reise nach Kanada. „Für drei Wochen war ich komplett raus aus den gesellschaftlichen Erwartungen“, sagt sie. Die Zeit habe ihr gutgetan. „Es war befreiend, dass ich einfach mal nur ich sein konnte.“ Während ihrer Auszeit hat Kocks zufällig einen Laden entdeckt, der Second Hand und Neuware kombinierte. Dieser Laden habe nicht ausgesehen, wie ein typisches Second-Hand-Geschäft. Die Einrichtung war stylisch und hochwertig und die Kleidung sah nicht nach Gebrauchtware aus. Fasziniert von diesem Konzept, wusste sie, was sie beruflich machen wollte.
Schon drei Monate nach der Reise unterschieb Hella Kocks in Münster den Mietvertrag für ihren eigenen Second-Hand-Laden nach kanadischem Vorbild. Mittlerweile besitzt sie eine zweite Filiale in Köln. Nach sechs Jahren ständiger Jobwechsel fühlt sie keine Selbstzweifel mehr. „Ich fühle mich nicht mehr unter Druck gesetzt und fremdgesteuert.“ Mit ihrem Beruf ist sie endlich glücklich.