Essen. Raus aus der Komfortzone: Mutig sein kann man lernen – sagt eine Essener Psychologin. Wie man Mut trainiert und welche Rolle Angst dabei spielt.
Es sind Schlagzeilen wie diese, die immer wieder die Meldungsspalten unserer Zeitung füllen: „Mutige Dortmunderin hilft Kind und wird zu Boden geschlagen“ (16.1.23), „Duisburger (36) vertreibt bewaffneten Räuber vom Fenster aus“ (2.12.22), „Jugendliche überfallen Jungen (12): Frau zeigt Zivilcourage“ (2.11.22)… Manchen Menschen ist es anscheinend ein Leichtes, mutig zu sein.
Aber was ist Mut überhaupt – und kann man ihn trainieren? Mit der aus Essen stammenden Psychotherapeutin und Chefärztin der Libermenta-Klinik Schloss Gracht Eva Kalbheim sprach Georg Howahl über ein Phänomen, von dem wir mehr gebrauchen könnten.
Frau Kalbheim, manche Menschen sind mutig, andere nicht so sehr. Woran liegt das?
Kalbheim: Mut hat durchaus etwas mit dem Temperament und dem Charakter zu tun. Aber Mut ist keine Eigenschaft, mit der man geboren wird, sondern Mut entwickelt sich im Laufe des Lebens. In der Psychologie verstehen wir unter Mut die Fähigkeit, eine potenziell gefährliche Situation zu meistern. Auch das ist etwas, was sich im Laufe des Lebens verändert. Welche Situation halte ich für gefährlich? Wo habe ich das Gefühl: Jetzt muss ich die Zähne zusammenbeißen? Muss Angst überwinden? Das kann je nach Lebenssituation und Lebensalter unterschiedlich sein.
Aber Mut ist nicht das Gegenteil von Angst, oder?
In der Psychologie beschreiben wir Mut als das Gegenteil von Zaghaftigkeit. Angst gehört immer zum Mut dazu. Ich brauche erst die Erkenntnis: „Ich habe Angst vor einer Situation!“ Denn das bedeutet, dass ich ein Risiko sehe. Dann ist der Mut der nächste Schritt, die Angst zu überwinden. Eine mutige Handlung ist, dass ich etwas, das ich nicht in allen Details vorhersehen kann, trotzdem versuche.
Welche Kennzeichen gehören denn zu einer mutigen Handlung?
Es gibt zwei Komponenten, die man da hervorheben kann. Das eine ist die Fähigkeit, trotz eines Risikos aktiv zu werden und Grenzen zu überschreiten. Das andere ist eher ein politischer Aspekt, dass man etwas tut, obwohl man Nachteile befürchtet. Aber man ist in einer solchen Situation von der Richtigkeit dessen, was man tun will, überzeugt. Das ist so etwas wie Zivilcourage.
Zivilcourage ist ja eine spezielle Ausprägung, aber braucht ein Feuerwehrmann oder ein Polizist nicht eine etwas andere Form von Mut?
Dabei spielt die von Bereitschaft eine Rolle, sich immer wieder in ein Risiko hineinzubegeben. Feuerwehrleute und Polizisten wissen, dass sie Tag für Tag in gefährliche Situationen gehen. Da ist sicherlich der Mut eine Komponente, die damit zu tun hat, seine eigenen Fähigkeiten und die Ressourcen, die man hat, gut einzuschätzen.
Ein Feuerwehrmann muss sich einer sehr gefährlichen Situation berufsmäßig stellen und lernen, eben nicht leichtsinnig zu sein. Er sieht: „Da kommt jetzt das Feuer auf mich zu.“ Er braucht eine gute Abschätzung: „Was kann ich tun, um zu helfen? Worauf muss ich achten, damit ich eben nicht selber in Gefahr komme, sondern eben auch noch Menschen retten kann?“
Sind Kinder besonders mutig? Oder vielleicht auch nur besonders risikofreudig?
Ein Kind hat noch keine richtige Vorstellung von Risiken, es kann also die Frage „Kann ich das Risiko realistisch einschätzen?“ gar nicht beantworten. Daher neigen Kinder sicherlich eher dazu, leichtsinnig zu sein. Aber Mut ist nicht gleich Leichtsinn.
Leichtsinnig heißt ja, dass man ein Risiko falsch einschätzt oder gar nicht einschätzen kann. Zum Mut gehört die Fähigkeit zu sehen: „Okay, da ist eine Situation, wenn ich da rein gehe, kann das auch schiefgehen, kann es negative Konsequenzen haben und potenziell gefährlich sein. Traue ich mir das zu?“ Diese Einschätzung entwickeln Kinder und Jugendliche erst im Laufe ihrer ihres Heranwachsens.
Essener Psychologin: Mutig sein als Lernprozess begreifen
Ist Ihnen schon ein Erwachsener begegnet, der zu mutig gewesen ist?
Weitere Texte aus dem Ressort Wochenende finden Sie hier:
- Psychologie: Warum sich Mädchen komplett überfordert fühlen
- Migration: Wie ein pensionierter Polizist im Problemviertel aufräumt
- Essener Roma-Familie über Klischee: „Wir sind keine Bettler“
- Familie: Hilfe, mein Kind beißt, schlägt, tritt andere!
- Generation Pause: „Man genießt, nicht den Druck zu haben“
Wir nennen das in der Psychologie den Sensation Seeker. Bei manchen Menschen liegt es in der Persönlichkeit, dass sie immer wieder einen Kick brauchen, und dafür eben auch Dinge tun, die unvernünftig und leichtsinnig sind. Das würde ich allerdings nicht mit „zu viel Mut“ beschreiben, sondern da herrscht mangelndes Risikobewusstsein. Und manchmal überschreitet es sogar eine krankheitswertige Grenze, wenn man das Risiko sieht und sich trotzdem kopfüber hineinstürzt.
Kann man Mut trainieren? Manche Menschen werden ja darauf trainiert, in risikoreichen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren…
So arbeitet die Verhaltenstherapie. Man stellt eine Angst-Hierarchie auf und entscheidet dann: Ich fange mit Dingen an, die mir nur wenig Angst bereiten. Und wenn ich feststelle, ich kann sie gut meistern, gehe ich auf das nächste Angstniveau. Dadurch überwinde ich eine Angst-Stufe nach der anderen, werde also immer ein bisschen mutiger. Es ist ein Lernprozess: „Ich kann das meistern, die Situation ist vielleicht weniger gefährlich, als ich mir das vorher ausgemalt habe.“ Und dann kann man sich sozusagen die Angst-Hierarchie nach oben arbeiten und spüren: „Mensch, ich habe mehr Mut, als ich selber gedacht hatte.“
Was kann ich zum Beispiel gegen Höhenangst tun? Auf einem niedrig hängenden Seil balancieren, auf einen hohen Turm steigen?
Ja, so funktioniert das, wir nennen es Exposition. Das heißt: Sich dem aussetzen, was Angst macht – und dann die Erfahrung machen, dass die Angst zurückgeht. Dann merkt man: „Ich kann meine Ressourcen aktivieren, meine Angst überwinden und mich an die nächste Angst-Stufe heranmachen.“ Menschen mit Höhenangst können dann irgendwann im Flugzeug sitzen und 10.000 Meter nach unten schauen, ohne zu zittern.