Bochum. Die erste Übernachtung auswärts heißt auch: Das erste Mal weg von zu Hause. Was tun, wenn die Sehnsucht kommt? Mit Heimweh-Tipps vom Experten.
An das erste schlimme Heimweh erinnert sich Sofia noch ganz genau. Damals war sie fünf und das erste Mal eine ganze Woche lang ganz allein bei ihrer Oma. 500 Kilometer weit entfernt von Zuhause, Mama, Papa und der kleine Babybruder schienen unerreichbar. „Das war schlimm“, erinnert sich die Zehnjährige. „Ich wollte unbedingt zu Mama und hab auch geweint. Die Oma hat gesagt, das geht weg, aber es ging nicht weg. Die ganze Woche nicht.“
Extrem starke Sehnsucht nach Hause
Fast jedes Mädchen, jeder Junge hat mindestens einmal im Leben Heimweh auf einer Ferienfreizeit, bei einer Klassenfahrt oder eben bei den Großeltern. „94 bis 95 Prozent“, sagt Peter Zimmermann, Professor für Entwicklungspsychologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Jedes fünfte Kind hat sogar eine extrem starke Sehnsucht nach Hause. „Aber auch Erwachsene können noch Heimweh haben.“
Dabei war es für Sofia keineswegs schrecklich bei der Oma. Wenn sie dieses bedrückende Gefühl gedanklich wegschiebt, erinnert sie sich auch an den Zoobesuch, an die Einkaufstour und an morgendliches Fernsehen im Bett (was sie Zuhause nie darf, wie sie verschmitzt zugibt).
Inzwischen geht Sofia in die fünfte Klasse. Ihre erste Klassenfahrt im vergangenen Schuljahr hat sie bereits hinter sich. „In den ersten Tagen hatte ich da gar kein Heimweh“, erzählt sie, „ich musste meine Freundin trösten. Bei der war es ganz schlimm. Sie war die ganze Zeit in der Hütte, hat geweint und ist nur zum Essen rausgekommen. Aber am dritten Abend, da wollten wir Marshmallows über dem Lagerfeuer braten, eigentlich was total Schönes, da habe ich mich auf mein Bett geschmissen und nur noch geweint. Ich wollte zu Mama. Meine Klassenkameraden haben versucht, mich zu trösten. Aber ich wollte einfach nur bei Mama sein oder ihre Stimme hören.“
Zuhause anrufen durfte auf dieser Klassenfahrt aber keiner. So hatte es die Klassenlehrerin schon vorab auf einem Elternabend festgelegt. „Anrufe machen das Heimweh nur noch schlimmer“, hatte sie erklärt und von einer früheren Klassenfahrt erzählt, bei der sie an einem Abend 25 weinende Kinder, die mit ihren Eltern telefoniert hatten, trösten musste.
Heimweh ist unabhängigvon Geschlecht und Alter
Ob mit fünf oder mit zehn Jahren, geändert hat sich dieses schwer zu beschreibende Gefühl des Heimwehs bei Sofia in all den Jahren nicht: „Ich möchte dann einfach nur ganz doll zu Mama“, sagt sie, wenn man sie fragt, wie sich Heimweh anfühlt.
Dass Sofia das Gefühl schwer in Worte fassen kann, sich Heimweh schwer beschreiben lässt, liege auf der Hand, sagt der Psychologe Peter Zimmermann, der über Bindungsstörungen in der Kindheit und Jugend forscht und wie Menschen ihre Emotionen regulieren: „Heimweh ist ein unspezifisches negatives Gefühl, bei einer anstehenden oder bestehenden Trennung, bei der die Betroffenen sich in einer neuen unbekannten Umgebung unwohl oder überfordert fühlen, verbunden mit der Sehnsucht nach zu Hause, den Eltern oder auch dem Haustier“, definiert er. Sprich: Eine fremde Umgebung ist eine besondere Herausforderung und eben manchmal eine Überforderung, die dann negative Gefühle auslöst und den normalen Wunsch nach Sicherheit in einer vertrauten Umgebung nach sich zieht.
„Betroffene sind in einer solchen Situation mit dem Gefühl konfrontiert, dahin zu wollen, wo sie wissen, wie alles funktioniert und wo sie sich wieder sicher fühlen“, erklärt Peter Zimmermann.
Heimweh ist eine kleine Trauer
Das Phänomen Heimweh wird deshalb auch mit einer „Minitrauer“ verglichen. Wie bei der Trauer sind an Heimweh Leidende damit konfrontiert, die Situation nicht ändern zu können. Das könne dann auch körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen oder ein auffälliges Verhalten nach sich ziehen, auch wenn das Kind sonst nicht dazu neigt: Wenn das Heimweh intensiv ist, denkt es dauernd darüber nach, fühlt sich hilflos, überfordert. Es kann dann zu einer depressiven Stimmung neigen oder aggressiv werden, beschreibt Zimmermann.
Abgeholt werden musste Sofia, wenn sie nicht zu Hause schlief, erst ein Mal. Da hatte sie zusammen mit ihrer Mutter eine befreundete Familie nachmittags im Schwimmbad getroffen. Deren Kinder überredeten Sofia, mit zu ihnen zu kommen, gemeinsam „Die Eisprinzessin“ zu schauen und dann zu übernachten. „Aber ich war da noch nie abends und wir haben dann gar nicht den Film, sondern irgendwas für Erwachsene im Fernsehen geschaut, und die haben uns die ganze Zeit mit Süßigkeiten vollgestopft“, erinnert sie sich. Sofia musste sich dann – offensichtlich überfordert von der Situation – übergeben und sich von ihrer Mutter abholen lassen. Sonst sei eine Übernachtung bei einer Freundin nie schwierig für sie gewesen, sagt sie, „Ich glaube, weil ich mich da wohlgefühlt habe.“ Geholfen hat ihr bei Oma damals übrigens ein Schal ihrer Mutter: „Ich habe an dem Schal gerochen und Mama war irgendwie da.“
Telefonieren oder nicht? Heimweh-Tipps vom Experten
Auf Ferienfreizeiten wird den Kindern schon mal verboten, zu Hause anzurufen. Ist das richtig?„Ein Telefonverbot ist bindungstheoretisch völlig falsch“, sagt Peter Zimmermann. „Wenn man das unterbindet, führt das nicht dazu, dass Heimweh effektiv reguliert wird, sondern dass das Kind lernt, bei Überforderung alleine gelassen zu werden oder dass die eigenen Gefühle falsch sind und verborgen werden müssen.“
Meist helfe es, wenn Eltern die Kinder darin bestärken, dass die Situation bewältigbar ist und neben dem Verständnis für das Kind dessen Aufmerksamkeit auch auf positive und spannende Erlebnisse lenken. Und wenn das nicht funktioniert, müsse gemeinsam nach Lösungen gesucht werden.
Peter Zimmermann rät dazu, feste Telefonzeiten auszumachen, zu denen die Eltern dann auch erreichbar sind. Sie sollten ihrerseits nicht enttäuscht sein, wenn das Kind doch nicht anruft – dann ist alles gut. Außerdem helfe es einem Kind, wenn bei einer Klassenfahrt oder Freizeit Vertrauenspersonen bestimmt werden, die für das Mädchen oder den Jungen immer ansprechbar sind. Und wer als Eltern die Selbstständigkeit seines Kindes fördert, kann das Heimweh mildern.
Je mehr Spaß, desto weniger Heimweh
Um Heimweh vorzubeugen, rät Professor Peter Zimmermann: „Je mehr die Kinder kontrollieren können, wie der Aufenthalt gestaltet ist, zum Beispiel wer auf eine Freizeit mitfährt oder mit wem sie sich ein Zimmer teilen, desto unwahrscheinlicher wird Heimweh.“ Dass unterschiedliche Kinder mit unterschiedlichem Temperament ausgestattet sind, komme hierbei zum Tragen: Manche organisierten sich sofort, andere, weil sie zum Beispiel schüchtern sind, eben nicht.
„Allgemein gilt: Je mehr die Situation gefällt, desto weniger ausgeprägt ist das Heimweh“, so Peter Zimmermann. Wichtig sei, genau hinzuschauen: Wenn die Situation wirklich unerträglich ist, ein Kind zum Beispiel massiv von der Gruppe ausgegrenzt wird, sollte man das ernst nehmen. „Letztendlich geht es darum, die gerade überfordernde Situation für das Kind wieder bewältigbar zu machen. Und wenn sie dann nicht bewältigbar bleibt, kann man das Kind ruhig dort herausholen.“