Duisburg/Lippstadt. Die dunkle Jahreszeit ist die Hochzeit der Rituale. Warum die geliebten Gewohnheiten wichtig für Familien sind – und es trotzdem ohne geht.
Als wir kürzlich mal verschlafen haben und es morgens eilig war, beschwerte sich mein Achtjähriger bei mir: „Ohne meinen Kakao kann ich nicht in den Tag starten, Mama!“ Eines unserer festen, eigentlich unverrückbaren Rituale war einfach ausgefallen: Normalerweise bringe ich ihm morgens einen Kakao ans Bett. Zusammen mit dem darf er langsam aufwachen und sich noch einen Moment in den warmen, weichen Federn gönnen.
Ohne dieses Ritual war das ganz klar kein guter Start in den Tag – von der Hektik, die wir hatten, mal ganz abgesehen. Und wenn ich genauer darüber nachdenke, haben wir ganz viele solcher Rituale: Die Pfannkuchen zum Sonntagsfrühstück – auch wenn die ausfallen oder es mal an einem anderen Tag Eierkuchen gibt, beschweren sich die Kinder.
Weihnachten als Fest der Rituale
Zum Ende des Wochenendes am Sonntagnachmittag gehen wir spazieren – ein zugegebenermaßen eher unbeliebtes Ritual. Gerade jetzt, im Herbst und Winter, ist die Hochzeit aller Rituale: St. Martin und Laternenlaufen, die Adventszeit an sich und mit ihrem Kalender, der (zumindest bei uns) nach ganz bestimmten Regeln zu funktionieren hat, Weihnachten als das wahrscheinlich ritualisierteste Ereignis überhaupt.
Doch was davon sind eigentlich Rituale, was Gewohnheiten und was Traditionen? Und was davon ist das, von dem Eltern immer gesagt bekommen, es sei sehr wichtig für Kinder? Melanie Gräßer, Psychologin und Kinder- und Jugendpsychotherapeutin mit eigener Praxis in Lippstadt, kennt die Antworten.
Rituale geben Kindern Sicherheit und Struktur
Sie hat gemeinsam mit einem Expertenteam aus Erzieherinnen, Kinderpsychologen, Familientherapeuten, Sozialpädagogen, Eltern und Kindern ein Buch mit dem Titel „Kinder brauchen Rituale: So unterstützen Sie Ihr Kind in der Entwicklung. Stressfrei durch den Familien-Alltag“, veröffentlicht.
Darin beschreibt sie zahlreiche Situationen, unterteilt nach Tagesablauf, nach bestimmten Themen wie Aufräumen, Einschlafen, Neues und Ungewöhnliches oder nach Jahresverlauf. „Ein Ritual ist eine bestimmte Verhaltensweise, die zu bestimmten Zeiten wiederholt wird“, definiert sie. „Rituale geben Halt und Sicherheit und helfen dabei auch, Krisen zu bewältigen.“
Auch wenn der Ratgeber bereits 2015 erschienen ist, sei er aktueller denn je, so die Expertin: „Es ist nach wie vor ein ganz wichtiges Thema und gerade jetzt, in diesen unruhigen Zeiten, sind Rituale ganz bedeutend.“
Rituale nicht aus Angst heraus praktizieren
Schon der menschliche Körper sei so konstituiert, dass er Regelmäßigkeiten am besten findet. Und gerade für Kinder seien diese besonders wichtig, um bestimmte Dinge durch häufige Wiederholungen zu lernen. „Rituale geben Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen“, betont Gräßer, „Sie fördern auch die Selbstständigkeit und geben Ordnung und Orientierung – egal zu welcher Jahreszeit.“
Dabei unterscheidet die 52-Jährige zwischen institutionelle Ritualen und solchen, die zu Hause stattfinden. Und auch zwischen guten und schlechten Ritualen. Gut seien Rituale, wenn sie etwas Positives bewirken. Schlecht, wenn sie aus einer Angst heraus praktiziert werden. Als Beispiel dafür nennt sie bestimmte religiöse Rituale.
Je älter die Kinder desto weniger Rituale
Oder Rituale, die nicht mehr den Gegebenheiten angepasst sind. Wenn etwa ein großes Kind oder Jugendlicher ohne Gute-Nacht-Lied nicht einschlafen kann, sollte man dieses Ritual überdenken. „Rituale müssen sich auch ausschleichen dürfen“ sagt Gräßer, „müssen sich an Alter und Entwicklungsschritte anpassen dürfen“.
Deshalb definiert sie starre Rituale ebenfalls als schlechte: „Nichts ist schlimmer, als an irgendetwas zu verhaften.“ Grundsätzlich gilt: „Je kleiner ein Kind, desto mehr ist es mit den Eltern verbunden, je älter sie sind, desto wichtiger wird ihr Umfeld und die Rituale werden weniger. Aber auch noch für Erwachsene sind sie wichtig. Sie geben ein Fundament und eine Struktur. Mindestens genauso wichtig ist es aber, davon dann auch mal abweichen zu dürfen.“
Duisburger Familie verzichtet auf Rituale
Das sei der Unterschied zu Traditionen, die meist keine Ausnahmen zulassen würden. Gewohnheiten hingegen finden statt, ohne den Sinn zu hinterfragen – im Gegensatz zu Ritualen als achtsamen Umgang mit Dingen. Patricia Wons, Mutter zweier inzwischen (fast) erwachsener 16- und 18-jähriger Kinder, kann mit diesen Ratschlägen und Hinweisen wenig anfangen.
„Ich bin kein Ritualmensch“, sagt die Duisburgerin, „auch nicht, als die Kinder kleiner waren. Unsere Familie, wir vier, sind das sichere Konstrukt, das wir brauchen.“ Bei den Wons gibt es Spieleabende, aber eben nicht ritualisiert, sondern nach Lust und Laune. Es gibt auch mal ein gemeinsames Sonntagsfrühstück, aber spontan. „Wir haben Familienerlebnisse und Familienzeit. Es muss insgesamt stimmen. Dabei ist auch ganz viel Liebe im Spiel.“
„Es macht keinen Sinn, an Ritualen hängenzubleiben“
Dass ihre Kinder weder auffällig noch schwierig oder gar kriminell geworden sind, zeige, dass es auch ohne feste Rituale geht. „Wir Eltern haben ein gutes Verhältnis zu den Kindern und die sind zufrieden und machen ihr Ding.“ Und so gibt es bei den Wons auch keine bestimmten Adventstraditionen, keinen Kranz oder Kalender.
„Es macht doch keinen Sinn, an Ritualen hängenzubleiben“, kommentiert Patricia Wons. Aber natürlich gebe es auch in ihrer Familie, und das ist ihr noch wichtig zu betonen, Regeln und Grenzen. „Und die richten sich nach den Bedürfnissen aller Familienmitglieder“, sagt die 45-Jährige. Und dann fällt ihr doch noch ein Ritual ein, das alle lieben: Kurz vor Weihnachten wird gemeinsam mit dem Großvater jedes Jahr der Baum aus dem Wald geholt.
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