Hattingen. NRW-Experte klärt auf: Warum Talent in der Kindererziehung nicht im Fokus stehen sollte und sogar Erfolge verhindern kann.

Talent muss man haben! Zumindest ist das die Überzeugung, die uns schon in frühester Jugend auf den Weg gegeben wird. Aber stimmt das auch? Nehmen wir doch mal zwei Beispiele aus der Musik: Florence Foster Jenkins (die Älteren oder Fans der Biografie-Verfilmung mit Meryl Streep werden sich erinnern) und Menderes Bağcı (Fans von „Deutschland sucht den Superstar“ und Reality-TV werden sich erinnern). Beide, man muss es mal in dieser Härte sagen, können nicht singen. Also wirklich nicht.

Aber hat es einen von ihnen davon abgehalten? Im Gegenteil. Foster Jenkins (1868-1944) erlangte einigen Ruhm als „Königin der Dissonanzen“ und „Diva der falschen Töne“, eben weil sie sich durch ihren absoluten Mangel an Befähigung nie abhalten ließ. Und sie ging damit selbstbewusst um und sagte: „Die Leute können vielleicht behaupten, dass ich nicht singen kann, aber niemand kann behaupten, dass ich nicht gesungen hätte.“

Menderes Bağcı: DSDS-Berühmtheit ohne Gesangstalent

Und wie war es mit Menderes Bağcı? In einer Show wie DSDS, in der es zu gut 90 Prozent darum geht, Gesangstalent zu entdecken und weiterzuentwickeln, bewarb sich der in Langenfeld geborene Tankwart 2002 mit seiner merkwürdig quäkenden Stimme – und flog er gleich bei der Vorjury raus. Doch hielt ihn das ab vom Singen?

Er tauchte wieder auf. 2003, 2004, 2005… Und wurde zwar kein guter Sänger, aber immerhin ein bekannter, der sogar damit umgehen konnte, wenn er vom großmäuligen Dieter Bohlen in Grund und Boden beleidigt wurde.

Karriere ohne Talent: Florence Foster Jenkins und Menderes Bağcı

Er kam einfach wieder und wieder, bis ihn alle irgendwie liebgewonnen hatten. Bis 2018. Also ein 16 Jahre langer Weg… Talent? Für Gesang wohl eine Fehlanzeige. Aber als Entertainer und Party-Kuriosität taugt er durchaus – und bestreitet so seinen Lebensunterhalt. Zwischenzeitlich reichte es gar zum „Dschungelkönig“ bei „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“

Hätten Foster Jenkins oder Bağcı je das Zeug gehabt, gesanglich auf das Niveau einer Édith Piaf oder eines Frank Sinatra zu kommen? Natürlich nicht. Aber beide wollten es sich nicht nehmen lassen.

Neben Talent ist Durchhaltevermögen entscheidend für Erfolg, sagt der NRW-Experte Rolf Schmiel. So bringe Profi-Fußballer Leroy Sané seiner Meinung nach nicht „den genügenden Biss“ mit, um sich langfristig durchzusetzen.
Neben Talent ist Durchhaltevermögen entscheidend für Erfolg, sagt der NRW-Experte Rolf Schmiel. So bringe Profi-Fußballer Leroy Sané seiner Meinung nach nicht „den genügenden Biss“ mit, um sich langfristig durchzusetzen. © Guido Schroeder Fotografie

Motivationstrainer aus NRW: „Ohne Talent werden Sie niemals Bundesligaspieler“

Und gerade in Bereichen, in denen anders als im Profi-Fußball keine knallharte Auslese stattfindet, an der die allermeisten zwangsläufig scheitern, sollte man sich auch an Dingen versuchen, für die man kein überragendes Talent hat.

„Wir alle haben Talente, die es uns etwa ermöglichen, gut Fußball zu spielen, zu musizieren oder gar zu singen. Aber in der Weltspitze erfolgreich zu sein, etwa im Fußball und der Musik, macht Talent wirklich den Unterschied aus, dort gibt es nur Talentierte. Ohne Talent werden Sie niemals Bundesligaspieler“, sagt Rolf Schmiel (49), Psychologe, Redner und Autor von Motivationsbüchern.

NRW-Talentforscher: Anlage und Prägung sind entscheidend

Was aber keineswegs heißt, dass mit der Ausstattung, die wir von der Natur mitbekommen hat, entschieden ist, in welchen Bereichen wir erfolgreich sein können. „Wenn man sich die Talentforschung anschaut, gibt es zwei Aspekte: Natürlich gibt es Anteile, die genetisch sind, einem also in die Wiege gelegt werden.

Das ist unabhängig von der Prägung des Menschen. Aber die besten Talente kann man immer dann entdecken, wenn etwas einerseits vererbt wird – und es andererseits vom Umfeld gefördert wird. Das Erben etwa einer mathematischen Begabung ist nachweisbar, aber sie kommt erst zum Durchbruch, wenn sie durch das Elternhaus oder die Umgebung so gefördert wird, dass man das Talent auch nutzt und lebt. Anlage und Prägung spielen also beide eine Rolle“, so Schmiel.

Erziehungstipp vom Profi: Talent nicht in den Fokus stellen

Sinnvoll ist es, in der Erziehung, den Begriff Talent nicht zu sehr in den Fokus zu stellen. Oft führt das dazu, dass man ein starres Bild von dem hat, was man kann und was nicht. Als guter Erziehungsrat hat sich erwiesen, ein Kind nicht für das Erreichen eines Ergebnisses zu loben, sondern für die Mühen, die es in das Erreichen des Ergebnisses gesteckt hat.

Schmiel: „Derjenige, der nur auf ein Ergebnis ausgerichtet ist, ist nicht so motiviert und nicht so beständig, wie derjenige, der für den Weg dorthin anerkannt und belohnt wird. Wenn die Anstrengung anerkannt wird, trainiert man es, sich anzustrengen – und das führt dazu, dass Menschen in unterschiedlichen Bereichen außergewöhnlich gut sind.“

Warum Talent Erfolg verhindern kann

Manchmal verhindert Talent sogar Erfolg. „Weil man sich mit schnellen Erfolgserlebnissen zufrieden gibt. Wenn die dann nicht eintreten, ist man so frustriert, dass man sich keine Mühe mehr gibt“, befindet Schmiel. Wer frühzeitig frustriert wird und sich nicht entmutigen lässt, kann erfolgreicher werden als jemand, der Erfolg gewöhnt ist, sich aber nicht anstrengen will.

Werfen wir einen Blick in den Spitzenfußball: „Diejenigen Spitzenfußballer, die auch in höherem Alter noch sehr erfolgreich sind, wie Ronaldo oder seinerzeit Lothar Matthäus, das waren immer diejenigen, die am frühesten und am längsten auf dem Trainingsplatz standen – und somit perfekt ihre Fähigkeiten genutzt haben.

Ob Gesang, Tanz oder Kunst: „Ich bin davon überzeugt, dass in allen von uns Talente stecken“, sagt der NRW-Experte Rolf Schmiel.
Ob Gesang, Tanz oder Kunst: „Ich bin davon überzeugt, dass in allen von uns Talente stecken“, sagt der NRW-Experte Rolf Schmiel. © Shutterstock | Oleksandr Nagaiets

Hattinger Experte: Leroy Sané „bringt nicht genügend Biss mit“

Wohingegen wir aktuell einen hochtalentierten Fußballer wie Leroy Sané in Deutschland haben, der aufgrund seiner Persönlichkeit nicht den genügenden Biss mitbringt, sich auf dem Niveau durchzusetzen, das er erreichen könnte“, erläutert Schmiel.

Der Psychologe Anders Ericsson von der University Of Florida hat in den 90er-Jahren in einer Studie festgestellt, dass besonders erfolgreiche Musiker nicht nur Talent besaßen, sondern auch bis zu ihrem 20. Lebensjahr etwa 10.000 Stunden in ihr Spiel investiert hatten. Seitdem geht man davon aus, dass man nach etwa 10.000 Stunden Übung eine Sache wirklich gut beherrscht.

Hirnforscher: Mut, etwas Neues auszuprobieren

Der Hirnforscher Martin Korte von der Technischen Universität Braunschweig geht in seinem Buch „Hirngeflüster“ davon aus, dass unsere Vorstellungen von unseren Fähigkeiten durch Eltern und Schule geprägt sind – und uns davon abhalten, unsere Fähigkeiten überhaupt erst auszuprobieren. Wer von sich glaubt, nie ein großes Gemälde malen zu können, wird vermutlich gar nicht erst zum Pinsel greifen.

Dass man öfter Dinge ausprobieren sollte, die man noch nie getan hat, ist gut für den Kopf, zahlreiche Studien aus der Gehirnforschung belegen, dass durch neue Herausforderungen neue Synapsen entstehen. Und vielleicht entdeckt man sich ja selbst neu.

Talentforscher aus NRW: „In allen von uns stecken Talente“

Schmiel: „Ich bin davon überzeugt, dass in allen von uns Talente stecken, die in den meisten Fällen gar nicht gefördert werden – oder wir suchen einfach nicht nach ihnen. Egal, ob jung oder alt, man sollte sich fragen: Wo kannst du vielleicht Talente haben, die du bis jetzt noch nicht gelebt hast.

Möglicherweise steckt in dir das Potenzial, noch einen großen Roman zu schreiben, ein schönes Lied zu komponieren oder ein tolles Bild zu malen. Es gibt viele Menschen, die erst im Alter ihr wahres Talent entdeckt haben.“