Amsterdam. Unser Autor hat über 500 Livekonzerte besucht, aber beim Trip nach Amsterdam zum Pearl-Jam-Auftritt, war alles anders.
Als bekennender Musik-Liebhaber habe ich weit über 500 Livekonzerte miterlebt. Egal, ob schubsend und schwitzend direkt vor der Bühne im winzig-kleinen Club oder hoch oben in der letzten Stadion-Reihe laut mitsingend: Überall wartete stets ein riesengroßer Spaß. Am vergangenen Sonntag war alles anders. Denn da wurde ein Auftritt kurzfristig abgesagt, als ich gerade am Halleneingang ankam. Was im ersten Moment nach Worst-Case-Szenario klingt, entwickelte sich zu nicht weniger als meinem besten Nicht-Konzert aller Zeiten.
Der Reihe nach: Ich bin ein großer Fan von Pearl Jam. Es war Anfang der 90er-Jahre, als die Band aus Seattle ihr Debütalbum „Ten“ herausbrachte und damit quasi über Nacht das Musikbusiness mit auf den Kopf stellte. Fast zeitgleich traten auch ähnlich wild auftretende Formationen wie Nirvana, Soundgarden und Alice in Chains ins Scheinwerferlicht. Ihre raue, ungeschliffenere Art der Rock-Musik bekam einen eigenen Stempel aufgedrückt: Grunge! Und Pearl Jam zählte gleich zu den Granden dieses neuen Genres.
Das lag ganz sicher auch an ihren herausragenden Live-Qualitäten. Schnell sprach sich herum: Ein Pearl-Jam-Konzert ist nicht nur Inspiration für Kopf und Herz, sondern stets auch eine körperliche Erfahrung. Es wuchs fix eine Fangemeinde heran, die der Band auf ihren Touren quer über alle fünf Kontinente hinweg folgte – wie eine Karawane der Treue.
Absage folgte auf Absage
Nun stand in diesem Sommer wieder eine Europa-Tournee an. Diese hätte bereits 2020 stattfinden sollen, doch ein Virus hatte etwas dagegen. Mit zwei Jahren Verzögerung konnte sie aber nun in diesem Sommer beginnen – und zwar Mitte Juni, beim „Pinkpop“-Festival in den Niederlanden. Für Deutschland hatte Pearl Jam zwei Termine anberaumt: in der Frankfurter Festhalle und auf der Berliner Waldbühne.
Beim Blick auf den Tourplan entschied ich mich aber für einen Trip nach Amsterdam. Das liegt kilometermäßig von meiner Heimatstadt nicht nur deutlich näher als die beiden deutschen Spielorte, sondern dort sollten auch gleich zwei Shows an zwei aufeinanderfolgenden Abenden steigen.
Die Vorfreude stieg. Doch eine Woche vor dem Wiedersehen mit meinen musikalischen Lieblingen kam die erste Hiobsbotschaft: Beim Auftritt in Paris hatte Sänger Eddie Vedder derart viel Staub und Rauch von Waldbränden in der Umgebung eingeatmet, dass seine Stimmbänder schwer lädiert wurden. Die Folgen: erst die Absage des Konzerts in Wien, zwei Tage später dann die Absage für Prag. Nächster geplanter Halt: Amsterdam. Und so saß ich an besagtem Sonntag daheim. Soll ich nun losfahren? Stundenlang war nichts in Erfahrung zu bringen. Dann entdeckte ich im Internet eine Mitteilung der Vorband: Deren Sänger behauptete steif und fest, dass es „heute Abend zu 1000 Prozent“ mit dem Auftritt klappen würde. Also ab in den Wagen. Auf geht’s!
Zwei Stunden später erreiche ich den „Ziggo Dome“ im Amsterdam, der in direkter Nachbarschaft zur Fußballarena von Ajax liegt. Und auf einer digitalen Infotafel über dem Halleneingang steht die entscheidende Botschaft: „Das Konzert von Pearl Jam heute Abend ist abgesagt“, so steht es dort auf Niederländisch geschrieben. Enttäuschung macht sich breit.
Doch sofort fällt auf, dass Hunderte dasselbe Schicksal erlitten haben. Auch sie hatte die Nachricht der Absage erst erreicht, als sie schon unterwegs oder bereits angekommen waren. So wie Angelina und Pasquale aus Modena. Wir kommen sofort ins Gespräch. Unterhalten uns auf Englisch. Die beiden Italiener erzählen, dass sie zwar schon eine Show bei dieser Tour gesehen hätten (jene im heimischen Imola), sie aber extra für dieses Konzert nach Amsterdam gekommen wären. Wir teilen unsere Trauer. Das tröstet.
Ein Duo aus dem belgischen Gent gesellt sich hinzu. Genau wie Andrea und Marten aus der Schweiz. Und später ein Quartett aus dem ostwestfälischen Bünde. Letzteres hat eine ganz besonders dicke Pechsträhne hinter sich: Denn diese Vier waren zuvor auch schon nach Wien und Prag gereist und erleben nun in den Niederlanden die kurzfristige Absage Nummer drei in Serie. Von Verbitterung aber keine Spur. Statt unsere Lieblingsband zu hören, quatschen wir vor der Halle. Über Europa, Corona und die Welt. Trinken dabei ein Bier, das die Kneipe vor der Halle in Plastikbechern ausschenkt. Und merken gar nicht, wie die Zeit vergeht.
Und dann gibt es sogar noch Live-Musik: Ein junger Mann mit Lockenkopf hat seine Gitarre mitgebracht. Er stimmt „Keep On Rockin’ in the Free World“ an. Ein Song von Neil Young, den Pearl Jam aber seit den Anfangstagen in ihr Repertoire aufgenommen haben und der zu den emotionalen Höhepunkten eines Konzerts gehört, wenn er mal auf der Setlist steht. Alle sind textsicher, alle singen mit. Und dieses Chorerlebnis verstärkt noch einmal dieses Gefühl, dass hier nicht nur Fans zusammenstehen. Es fühlt sich fast wie eine Familie an.
Warteschlangen? Auch die gibt es! Nämlich direkt vor dem Fanartikelstand. Der hat überraschenderweise geöffnet. Und die angereiste Anhängerschaft deckt sich großzügig mit Erinnerungsstücken wie Postern oder T-Shirts zu einem Konzert ein, das überhaupt nicht stattgefunden hat. Auch ich greife zu. Vielleicht werden diese sonderbaren Exemplare ja in ferner Zukunft mal begehrte Sammlerstücke.
Irgendwann fahre ich dann wieder heim. Beseelt von den schönen Begegnungen, den Gesprächen, dem Singen. Trotzdem fühlt es sich wie ein Stich ins Herz an, als ich tags darauf erfahre, dass das zweite Amsterdam-Konzert am Montag stattfindet. Ohne mich! Eddie Vedder wollte wohl gegen den Rat eines Arztes unbedingt auf die Bühne. Vermutlich eine Trotzreaktion, weil man sich nicht einfach so still und leise verkrümeln wollte. Denn dies ist vorerst der letzte Europa-Auftritt. Weiter geht’s erst im September in Kanada und den USA.
Bestimmt werden auch dort alle Auftritte wahrlich bemerkenswerte. Doch an mein bestes Nicht-Konzert aller Zeiten werden sie vermutlich nicht herankommen...
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