Zuerst aus Muße in der Pandemie, nun wegen hoher Lebensmittelpreise: Viele Hobby-Landwirte bauen Gemüse und Obst selbst an – wo immer es geht.
Erst hat die Pandemie die Städter aufs Feld getrieben. Die viele Zeit im Lockdown wollte sinnvoll genutzt werden. Die Sehnsucht nach Natur, nach nachhaltigem Anbau mit regionalen Erzeugnissen fand seinen Trendhöhepunkt. Nun sind es die steigenden Lebensmittelpreise, die das Phänomen ganzer Scharen neuer Hobby-Landwirte und Gemeinschaftsgärtner beflügelt. Auch zu Hause ist nunmehr nur Blühendes im Garten oder auf dem Balkon nicht mehr angesagt in Zeiten, in denen sich die Angst vor Lebensmittelknappheit ausbreitet.
Das erfährt auch die SoLaWi-Gruppe Rhein-Neckar, deren Mitglieder-Warteliste seit nunmehr zwei Jahren beständig anwächst. Auch an diesem frühen Sommermorgen sind unter den 15 fleißigen Helfern einige Neulinge dabei. So auch Jonas und Johanna. Bei ihrem ersten „Mitmachtag“ wollen sie gemeinsam mit den anderen zartes Zwiebelgrün pflanzen, damit in einigen Monaten Zwiebeln fürs ganze Jahr eingelagert werden können. Die Ernte muss genommen werden wie sie kommt. Im Sommer gäbe es manchmal soviel Gemüse, dass es zu viel wäre, meint Johanna. Dem Paar sind biologische Lebensmittel wichtig, aber finanziell rentieren würde es sich für sie auch.
Solidarisch landwirtschaften oder urban gärtnern
Die Idee der solidarischen Landwirtschaft (SoLaWi) begann schon 1988 in Schleswig-Holstein. Mittlerweile existieren circa 300 Höfe in ganz Deutschland. Das Konzept ist einfach: Ein Bauernhof versorgt eine feste Zahl von Mitgliedern in der näheren Umgebung mit Lebensmitteln. Diese finanzieren die laufenden Kosten des Hofs, helfen freiwillig bei der Hofarbeit und erhalten im Gegenzug wöchentlich ihren Ernteanteil. Einige Höfe wurden dadurch gerettet, in eine neue Generation beziehungsweise in ein neues Pachtverhältnis geführt oder auf diesem Weg zu einem Bio-Hof umfunktioniert. Denn die SoLaWi-Bauernhöfe setzen nicht nur auf Gemeinschaft, sondern auch auf Nachhaltigkeit. Auf die Weise soll eine bäuerliche, vielfältige Landwirtschaft erhalten bleiben.
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Hinzu kommt der direkte und transparente Wirtschaftskreislauf, der nicht mehr von der Macht der Discounter getrieben ist. Hofbetreiber und AbnehmerInnen bilden also eine eigene Wirtschaftsgemeinschaft. Doch ist das ein zukunftsfähiges Konzept für die Lebensmittelversorgung des Landes? „Derzeit sind die landwirtschaftlichen Strukturen und die Organisation der Wertschöpfungsketten nicht so, dass SoLaWis die regionale Produktion übernehmen könnten“, meint Dr. rer. agr. Annette Piorr vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e. V. in Müncheberg. „Das würde eine stärkere Re-Integration von zum Beispiel Feldgemüseanbau in vielen Regionen bedeuten. SoLaWi wäre ein Weg dazu, aber sicher nicht der einzige. Wir beobachten, dass es vermehrt zu neuen Kooperationen zwischen städtischen und ländlichen Akteuren kommt, in verschiedenen Modellen.“ Sie ist Leiterin eines Forschungsprojekts, dass sich mit der Frage befasst, wie eine stärkere Regionalisierung der Lebensmittelversorgung einen Beitrag leisten kann, umweltfreundliche und widerstandsfähigere Versorgungsstrukturen aufzubauen.
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Mikrofarmen, Miet- und Saisongärten boomen
Bislang sind nur 0,1 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe (263.500) SoLaWis. Sie decken aber in immer mehr ländlichen Regionen die Bedürfnisse und den Bedarf kleinerer Gruppen. Doch in Ballungsräumen und Großstädten sind andere Konzepte vonnöten. Schon vor rund zehn Jahren entdeckten daher die Menschen das „urbane Gärtnern“. An ungewöhnlichen Orten, an denen oftmals Asphalt, Beton oder Müll der Natur keine Chance zu geben schienen, eroberten sie die Steinwüsten und verwandelten sie in kleine Blumen-, Obst- oder Gemüsegärten. Einst als „Guerilla Gardening“ von Pflanzaktivisten mit heimlicher Aussaat auf öffentlichen Flächen erzwungen, entstehen viele Gemeinschaftsgärten heute aus einem Nachbarschaftsbedürfnis heraus in Hinterhöfen, brachliegenden Flächen oder auf Gebäudedächern. In verdichteten Stadträumen sind Grün- und Freizeitflächen klimatische, aber auch soziale Inseln.
Die Grundfläche pro Kopf wird in Großstädten aber immer kleiner, gleichzeitig steigen die Unterhaltungskosten städtischen Grüns. So ist die Idee der „essbaren Stadt“ entstanden und weltweit auf dem Vormarsch. Städtischer Raum wird offiziell zum Anbau von Lebensmitteln nutzbar gemacht und jeder kann mitmachen und ernten. Ein Konzept, das sich angesichts sinkender Kleingärtenflächen, aber steigender Nachfrage, weiter auszubauen lohnt.
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Bislang waren es vor allem Romantiker und Idealisten, die sich der Selbstversorgung mit biologischen und regionalen Lebensmitteln zuwandten. Sozusagen eine generationsübergreifende Graswurzelbewegung, die sozial-integrativ ihr Umfeld mitbestimmen möchte, eine Beziehung zur Herstellung ihrer Nahrung sucht und deshalb über alternative Versorgungsmöglichkeiten nachdenkt. Doch immer mehr sind es jetzt auch Familien, Senioren und eben Kostenbewusste, die sich ans Gärtnern machen. Für Jungunternehmer, wie Birger Brock und Tobias Paulert eine gute Zeit, denn sie wollen mit ihrem Unternehmen „Ackerhelden“ die Menschen wieder emotional näher an das heranbringen, was sie täglich essen.
Sie bieten an insgesamt 20 Standorten verteilt in ganz Deutschland biozertifizierte, mit verschiedenen Gemüsesorten vor-bepflanzte Ackerstücke. Einen Sommer lang darf hier gesät, gepflanzt und geerntet werden. Die GärtnerInnen erhalten Pflanztipps sowie Werkzeuge und Wasser. Wer den Mietgarten mit 40 Quadratmetern für einen Jahresbeitrag von 229 Euro gut bewirtschaftet, der kann nach Angaben der Ackerhelden Gemüse im Wert von mehr als 500 Euro ernten. Es ist davon auszugehen, dass die weiter ansteigenden Lebensmittelpreise ihnen die Kunden zuspielen.
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Unerfahrenen den Einstieg in den Gemüseanbau erleichtern
Eine größere Vision verfolgen wiederum zwei Berliner Jung-Unternehmer, die 2020 das Start-up „Tiny Farms“ gegründet haben. Mit ihrem Farmmodell wollen sie Menschen ohne klassische landwirtschaftliche Ausbildung den Einstieg in den Gemüseanbau erleichtern. In einem Netzwerk digital verbundener Mikrofarmen wird so nicht nur Biogemüse für den Eigenbedarf erzeugt, sondern auch für Abnehmer, wie Schulen oder Biomärkte in Berlin und Brandenburg. „Mit dem Entstehen vieler einzelner Tiny Farms wollen wir ungenutzte Flächen nutzbar machen und eine Alternative zur industriellen Landwirtschaft darstellen“, erklärt Jacob Fels, einer der Gründer. Doch ungenutzte Flächen sind rar. „Es gibt durchaus Potenziale, mit einer stärkeren Anpassung von regionalen Ernährungsbedarfen und regionaler Versorgung sowohl Nachhaltigkeitsaspekte zu stärken als auch neue Märkte zu bedienen. Allerdings wissen wir, dass der Zugang zu Land für Neu- und Quereinsteiger insgesamt ein Problem ist“, sagt Piorr.
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Umso mehr lohnt es sich daher, eigenen Grund- und Boden zu nutzen. Wie der Handelsverband Heimwerken, Bauen und Garten (BHB) mitteilt, stiegen die Umsätze der Bau- und Gartenfachmärkte im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 42,2 Prozent. Viele Händler würden eine deutliche Nachfragesteigerung nach Hochbeeten spüren sowie nach Zubehör für die Selbstversorgung mit Obst, Gemüse und Kräutern. Aber wenn ein eigener Garten vorhanden ist, wie hoch ist der zeitliche Aufwand? Auch hierfür haben die Ackerhelden eine grobe Richtschnur: Über den Saisonverlauf benötigt eine Person für einen großen Gemüsegarten durchschnittlich zwei Stunden pro Woche. Das ist nicht unbedingt mehr als ein wöchentlicher Einkauf auf dem Gemüsemarkt.
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