Essen. Der Terroranschlag auf Olympia in München erschütterte 1972 die Welt. Der Versuch, die Geiseln zu befreien, endete als Desaster. Ein Rückblick.
Es ist der 5. September 1972, als gegen 4.30 Uhr morgens acht Männer in Trainingsanzügen etwas ungelenk über den Zaun ins Olympische Dorf in München klettern. Eine Gruppe amerikanischer Athleten, die von einer Vergnügungstour in der Stadt zurückkehren, helfen den vermeintlichen Sportkameraden über den Zaun, reichen ihnen ihre Sporttaschen an. „Good night and have fun“, rufen sie den Männern noch gut gelaunt nach. Was die US-Athleten nicht wissen: Die acht Männer sind keine Sportler, die von einer Kneipentour in ihr Quartier heimkehren, sondern ein palästinensisches Terrorkommando. In den Taschen, die sie mit sich führen, haben sie keine Laufschuhe oder Trikots, sondern Sturmgewehre und Handgranaten. Sie sind gekommen, um Geiseln zu nehmen und um zu töten. Von diesem Moment an wird der Terror die bisher so heiteren Olympischen Spiele von München überschatten.
Auch interessant
Dabei hat zehn Tage lang nichts auf die dramatischen Ereignisse hingedeutet. Am 26. August eröffnet Bundespräsident Gustav Heinemann unter der Zeltdach-Konstruktion des neuen Olympiastadions die Spiele. 36 Jahre nach den Spielen von Berlin, die von den Nazis für ihre Propaganda missbraucht wurden, präsentiert sich die immer noch junge Bundesrepublik als ein anderes Land, friedlich und weltoffen.
Volle Tribünen, starke Leistungen
Zehn Tage lang feiert München ein riesiges Fest. Es sind die heiteren Spiele. Die Tribünen sind voll, die sportlichen Leistungen Weltklasse. Das erst wenige Jahre zuvor eingeführte Farbfernsehen macht die Wettbewerbe zu einem TV-Ereignis. Da ist die Weitspringerin Heide Rosendahl, die die erste Goldmedaille für die Gastgeber holt. Da ist der goldene Sonntag des bundesdeutschen Teams, als 800-Meter-Läuferin Hildegard Falck, Speerwerfer Klaus Wolfermann und Geher Bernd Kannenberg am 3. September binnen einer Stunde gleich dreimal Gold für Deutschland holen. Zum Publikumsliebling avanciert die sowjetrussische Turnerin Olga Korbut mit drei Goldmedaillen, die Fans feiern die zierliche Sportlerin als den „Spatz von Minsk“. Und dann ist da eine gerade mal 16-jährige junge Frau, die mit der Weltrekordhöhe von 1,92 Metern sensationell Gold im Hochsprung gewinnt und die mit ihrer jugendlich-unbekümmerten Art die Herzen der Zuschauer im Sturm erobert: Ulrike Meyfarth, so ihr Name, wird in München zum Weltstar.
Auch interessant
Der unumstrittene Superstar der Spiele aber kommt aus den USA. Der schnauzbärtige Sonnyboy Mark Spitz schwimmt in München der Konkurrenz um Längen davon. Am Ende sind es sieben Goldmedaillen, die sich der 22-Jährige um den Hals hängen darf. Seine siebte Goldmedaille holt Spitz mit der US-Staffel. Es ist der 4. September, es sind die letzten unbeschwerten Stunden der Spiele von München. Es ist der letzte Jubel vor dem Tag, der alles verändert.
Die acht Terroristen, die an diesem Morgen an der Connollystraße in das Olympische Dorf eindringen, haben leichtes Spiel. Die Sicherheitsvorkehrungen sind betont locker, die Organisatoren wollen keine Fernsehbilder von bewaffneten Polizisten oder streng abgeriegelten Bereichen. Mit einem Anschlag rechnet hier niemand. Schnell besetzen die Terroristen das Quartier der israelischen Olympiamannschaft. Moshe Weinberger, der Trainer der Gewichtheber, stellt sich den Eindringlingen entgegen und ermöglicht so einigen Kameraden die Flucht. Doch Weinberger wird ebenso wie der Gewichtheber Josef Romano von Kugeln aus den Schnellfeuergewehren der Terroristen getroffen. Beide sterben. Die Angreifer haben nun neun Geiseln in ihrer Gewalt.
Nach und nach dringen die Ereignisse von München an die Öffentlichkeit. Maskierte Terroristen mit Maschinenpistolen im Anschlag übergeben Polizisten ein Schreiben. Ein Ultimatum. Die Forderung: Bis 9 Uhr sollen 200 in israelischen Gefängnissen einsitzende palästinensische Häftlinge freigelassen werden. Ansonsten werde man die Geiseln töten. Gleiches gelte für den Fall, dass die Polizei versuche, das israelische Sportler-Quartier zu stürmen. Die Geiselnehmer verlangen, mit ihren Geiseln in ein arabisches Land ausgeflogen zu werden. Schnell ist klar: Diese Forderungen sind nicht zu erfüllen. Gleichwohl beschließen die Behörden, zum Schein weiter zu verhandeln. Es beginnt ein Nervenkrieg.
Auch interessant
Knapp drei Stunden sind seit dem Überfall vergangen, als gegen 7.20 Uhr Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher und Bayerns Innenminister Bruno Merk im Olympischen Dorf eintreffen. Sie versuchen mit den Geiselnehmern zu verhandeln, beide Minister bieten sich als Geisel im Austausch gegen die israelischen Sportler an. Die Terroristen, die sich nun als Mitglieder der palästinensischen Terrorgruppe „Schwarzer September“ zu erkennen geben, lehnen ab. Schwarzer September. Der Name der Terror-Organisation ist für Polizei und Geheimdienste kein neuer. Er bezieht sich auf den Bürgerkrieg in Jordanien, der am 1. September 1970 seinen Anfang nimmt, als radikale Palästinenser ein Attentat auf Jordaniens König Hussein verüben. Der Anschlag schlägt fehl, Hussein rächt sich an den Palästinensern, zerschlägt die PLO in seinem Land, vertreibt deren Kämpfer ins Ausland. Im Jahr danach tötet ein Kommando des Schwarzen September den jordanischen Premierminister. Auch in Deutschland schlägt die Terrorgruppe blutig zu. Im Februar 1972, also rund ein halbes Jahr vor den Olympischen Spielen, ermorden Mitglieder des Schwarzen September fünf Jordanier in Brühl bei Köln. Und nun also München.
Auch interessant
Der Anführer der Geiselnehmer, der sich Issa nennt und deutsch spricht, verhandelt mit der Polizei. Er willigt ein, das Ultimatum von 9 auf 12 Uhr zu verlängern. Die Polizei geht zu diesem Zeitpunkt davon aus, dass sie es mit fünf Tätern zu tun hat. Tatsächlich sind es acht. Es wird nicht die einzige Fehleinschätzung der Behörden bleiben.
Rund um den Ort der Geiselnahme gehen auf den Hausdächern Scharfschützen der Polizei in Trainingsanzügen in Stellung. Der Nervenkrieg dauert an. In Bonn und in Tel Aviv tagen die Krisenstäbe der Regierungen. Es ist 11.15 Uhr, als der israelische Botschafter in Deutschland, Eliashiv Ben-Horin, in München eintrifft. Er erklärt, dass die Regierung von Premierministerin Golda Meir der von den Terroristen geforderten Freilassung der 200 inhaftierten Palästinenser nicht nachgeben werde. Israel lasse sich nicht von Gewalttätern erpressen.
Ein weiteres Ultimatum – und noch eins
Den Verhandlungsführern gelingt es, den Geiselnehmern eine weitere Verlängerung des Ultimatums abzuringen. Nun gilt 15 Uhr als letzte Frist. Später wird das Ultimatum noch ein weiteres Mal verschoben, auf 17 Uhr. Polizei und Politik versuchen, Zeit zu gewinnen. Zeit für einen Plan, die Geiselnahme zu beenden und die Israelis unversehrt zu befreien. Doch der Plan scheitert an einem peinlichen Versäumnis der Polizei. Als die Einsatzleitung den Sturm auf das Quartier der Israelis vorbereiten und immer mehr Beamte um den Ort der Geiselnahme postieren, bekommen die Geiselnehmer dies über Radio und Fernsehen mit. Man hatte vergessen, im Quartier der Israelis den Strom abzustellen. Die Befreiungsaktion wird deshalb abgeblasen.
Auch interessant
Ultimatum um Ultimatum läuft ab, ohne dass es zu einer Einigung zwischen Terroristen und Behörden kommt. Seit 15.35 Uhr sind die Olympischen Spiele offiziell unterbrochen, noch laufende Wettbewerbe werden zu Ende geführt. Innenminister Genscher bemüht sich weiter um eine gewaltfreie Lösung. Die Geiselnehmer gestatten dem Politiker, für neue Verhandlungen in das Quartier der Israelis zu kommen. Jetzt fordern die Terroristen ein Flugzeug nach Kairo. Später wird die ägyptische Regierung eine Landung in der Hauptstadt kategorisch ablehnen. Doch das wissen die Palästinenser zu diesem Zeitpunkt nicht. Die Gespräche, so scheint es, stecken fest.
Doch dann, am frühen Abend, kommt Bewegung in die Verhandlungen. Wohl auch aufgeschreckt durch die geplante Befreiungsaktion, fordern die Terroristen nun sofortiges freies Geleit mit ihren Geiseln und ein Flugzeug mit dem Ziel Kairo. Die deutschen Behörden gehen zum Schein darauf ein, die Scharfschützen ziehen sich zurück. Terroristen und Geiselnehmer sollen per Hubschrauber zum Flughafen gebracht werden, wo die Maschine warte.
Auch interessant
Es ist kurz nach 22 Uhr, als die Palästinenser mit ihren Geiseln im Keller des Hauses Connollystraße 31 in einen Bus steigen. Der Bus bringt sie zu zwei in der Nähe wartenden Hubschraubern des Bundesgrenzschutzes, die kurz darauf abheben und Kurs auf den Fliegerhorst Fürstenfeldbruck nahe München nehmen. Dort wiederum wartet eine Boeing 727 mit laufenden Triebwerken. Was die Geiselnehmer nicht wissen: Die Tanks sind fast leer, der Jet soll nie Richtung Kairo starten. Stattdessen will die Polizei die Geiselnahme auf dem Flughafen beenden. Noch ahnt niemand, in welcher Katastrophe das dilettantisch geplante Unterfangen enden wird.
Gegen 22.30 landen die beiden Hubschrauber in Fürstenfeldbruck. Flutlichtmasten tauchen das Rollfeld in gleißendes Licht. Weil die Polizei immer von fünf statt acht Geiselnehmern ausgeht, gehen auf den Dächern der Flughafengebäude auch nur fünf Polizisten mit Gewehren in Stellung. Eine von mehreren fatalen Falscheinschätzungen der Einsatzleitung an diesem Abend. Hinzu kommt, dass die Beamten keine extra ausgebildeten Scharfschützen sind, sondern Streifenpolizisten. Ihre Gewehre sind zudem für solch einen Einsatz nur bedingt geeignet. Angeforderte Panzerwagen der Polizei werden erst auf dem Fliegerhorst eintreffen, als alles vorbei ist.
Auch interessant
In der Boeing 707 warten mehrere Polizisten in Lufthansa-Uniformen als vermeintliche Crew, um die Geiselnehmer zu überwältigen. Die Beamten, die sich für diesen Einsatz freiwillig gemeldet hatten, entscheiden aber kurzfristig, sich wieder aus der Maschine zurückzuziehen. Die nur mit ihren Dienstpistolen ausgerüsteten Streifenbeamten sehen plötzlich keine Chance mehr, etwas gegen die Terroristen mit ihren Schnellfeuergewehren auszurichten. Kurz bevor die Hubschrauber landen, verlassen sie eigenmächtig den Jet.
Zwei der Terroristen steigen aus dem Hubschrauber und inspizieren kurz die Boeing 707. Die Scheinwerfer sind nun ausgeschaltet, das Rollfeld liegt im Dunkeln. Um 22.38 Uhr erteilt die Einsatzleitung den Befehl zum Zugriff. Die Scheinwerfer werden wieder eingeschaltet, die Polizisten eröffnen das Feuer, die Terroristen schießen zurück. Doch der Plan der Einsatzleitung, die Geiselnehmer mit einem Überraschungsangriff auszuschalten, scheitert. Stattdessen entwickelt sich ein unkontrollierter Schusswechsel, der sich über rund zwei Stunden hinzieht. Vor den Toren des Fliegerhorstes verfolgen tausende Schaulustige das Geschehen aus der Entfernung.
Chaotischer Einsatz
Die Informationspolitik von Behörden und Polizei ist so chaotisch wie der Einsatz. Gegen 23 Uhr verkündet ein Sprecher des Nationalen Olympischen Komitees, die Geiseln seien befreit, vier Terroristen getötet worden. Eine Nachrichtenagentur verbreitet weltweit eine entsprechende Meldung. Gegen Mitternacht spricht Regierungssprecher Conrad Ahlers von einem glücklichen Ausgang der Aktion. Die Menschen atmen auf. Doch es kommt ganz anders. Um 2.40 Uhr muss Olympia-Pressechef Hans Klein vor der Presse mitteilen: Alle neun Geiseln und ein Polizeibeamter sind tot. Fünf Terroristen ebenfalls, drei werden gefasst. Es ist ein Fiasko, eine Katastrophe. Was wird nun aus Olympia? Bei einer Gedenkfeier am nächsten Tag fordert der Chef des Internationalen Olympischen Komitees Avery Brundage in seiner berühmt gewordenen Ansprache: „The games must go on.“ Die Spiele müssen weitergehen. Die Spiele gehen tatsächlich noch ein paar Tage weiter. Doch es sind nicht mehr die gleichen Spiele. Sie haben ihre Unschuld verloren.
Nachtrag: Den drei überlebenden Terroristen soll in Deutschland der Prozess gemacht werden – es kommt jedoch nie dazu. Im Oktober 1972 entführt ein Palästinenser-Kommando eine Lufthansa-Maschine mit zwölf Passagieren. Die Täter erzwingen die Freilassung der drei Inhaftierten. In Israel autorisiert die Regierung den Geheimdienst, Täter und Drahtzieher der Geiselnahme von München zu töten. In den folgenden 20 Jahren töten israelische Kommandos zwei der drei überlebenden Attentäter. Der dritte Attentäter, der Palästinenser Abu Daud, entkommt, er stirbt im Juli 2010 in Damaskus an Nierenversagen.
Das ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung – jetzt gratis und unverbindlich testlesen. Hier geht’s zum Angebot: GENAU MEIN SONNTAG