Gelsenkirchen. Vera Sbierczik führt durch ihre Heimatstadt Gelsenkirchen. Alte Gebäude lassen vermuten: Die Menschen mögen dort anscheinend keine Ecken.

Eigentlich redet man ja nur übers Wetter, wenn man sonst nichts zu erzählen hat. Über Gelsenkirchen gibt es eine Menge zu berichten. Aber bitte, schauen Sie sich trotzdem zunächst diesen Himmel an: so blau, so königsblau! Natürlich sei sie Schalke-Fan, sagt Vera Sbierczik lächelnd. „Ich bin zehn Minuten vom Parkstadion groß geworden.“

Die alte Hotelmeile zeigt halbrunde Balkone.
Die alte Hotelmeile zeigt halbrunde Balkone. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Die 36-Jährige betont: „Gelsenkirchen hat so viel mehr als man glaubt, es gibt ein paar Sachen, die wirklich spannend sind.“ Allerdings muss man sich bei der ganzen Nachkriegsarchitektur, „die nicht immer gelungen ist“, schon die Mühe machen, die besonderen Bauten und ihre Geschichten zu entdecken. Geht man vom Hauptbahnhof Richtung Innenstadt versperrt einem die Einkaufspassage den Blick auf wahre Schönheiten.

Da wären die weißen Häuser mit den runden Balkonen und Erkern. Symbole des Bergbaus verzieren die Fassade: Grubenlampe sowie Schlägel und Eisen. Auch ein Flügelrad ist zu sehen. „Es steht für die Eisenbahn, für Entwicklung, Schnelligkeit“, so Sbierczik. Die Straße war mal eine schicke Hotelmeile, die bis zum Postamt reichte. Auch das Gebäude steht heute noch, es ist das Verwaltungsgericht.

Die Gästeführerin zeigt eine alte Postkarte, auf der das Postamt zu sehen ist. Daneben der ebenso schöne Bahnhof vor dem Zweiten Weltkrieg. Kein Vergleich zu dem heutigen Zweckbau. Auch der Vorplatz war einladender, mit einer runden und begrünten Fläche. Da erahnt man, wie reich das arme Gelsenkirchen einst war. „Als ob man nach Wien käme“, schwärmt die Historikerin, die in Bochum studiert hat.

Bergmann und Stahlgießer

Ein Fenster des Bahnhofs, der 1982 abgerissen wurde, blieb erhalten und ist gegenüber der ehemaligen Hotelmeile zu bestaunen: „Es zeigt die fünf Säulen der Gelsenkirchener Wirtschaft.“ Eine Chemielaborantin mit Reagenzglas, ein Glasbläser mit Glasrohr, ein Bergmann mit Abbauhammer, ein Stahlgießer samt Stahlzange und eine Frau mit Maßband. 6000 Arbeitsplätze gab es in der Textilindustrie in den 50er- und 60er-Jahren, so Sbierczik, bevor die Konkurrenz aus Billiglohnländern zu groß wurde. Die Arbeit war damals attraktiv für Frauen. Denn: „In der Montanindustrie gab es ja nur Männerberufe.“

Abgerundete Ecken: das Hans-Sachs-Haus.
Abgerundete Ecken: das Hans-Sachs-Haus. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

In der Fußgängerzone bleibt Vera Sbierczik vor einem weiteren imposanten Gebäude stehen mit schmalen, hohen Fenstern, in dem sich mehrere Geschäfte befinden: das Weka-Karree. Weka steht für Westfälisches Kaufhaus. Das war es lange Zeit. Aber Vera Sbierczik schüttelt den Kopf: „Dass wir es heute noch Weka-Haus nennen, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.“ Der korrekte Name sei: Alsberg.

Die Familie Alsberg ließ es Anfang des 20. Jahrhunderts errichten und nach 1928 erweitern. „Es war das größte Alsberg-Haus von 60 in ganz Deutschland.“ Doch mit der Machtübernahme der Nazis wurden die jüdischen Warenhausbesitzer 1933 enteignet, später Familienmitglieder umgebracht.

„In dem Alsberg-Haus gab es einen jüdischen Betsaal für 400 Leute“, erzählt Vera Sbierczik. Dort hingen schöne Messinglampen. Ein Privatmann habe sie bewahrt. „In der 2007 eröffneten neuen Synagoge sind sie wieder zu sehen. Immerhin etwas Positives.“

Ein Beispiel für den Backsteinexpressionismus

Das Alsberg-Haus ist an der Ecke abgerundet. Diesen Stil kann man immer wieder entdecken. Etwa beim ehemaligen Sinn-Kaufhaus, dessen Fenster ebenfalls gerundet sind. Sehr beeindruckend ist auch das Hans-Sachs-Haus. „Es sollte abgerissen werden.“ Wie viele andere schöne Bauten, etwa das alte Rathaus. Doch man ließ die Hülle des Hans-Sachs-Hauses von 1927 stehen – ein Beispiel für Backsteinexpressionismus. Nur das Innere des heutigen Rathauses, das nach einem Dichter und Sänger benannt wurde, ist offen gestaltet, mit viel Glas. Auch durch das Dach scheint die Sonne wie in ein Atrium. 2013 wurde das renovierte Gebäude samt Veranstaltungssaal eröffnet.

Ein Blick zurück: Die Postkarte zeigt den alten Bahnhof (r.) von Gelsenkirchen mit dem hübschen Vorplatz. Das Gebäude des ehemaligen Postamts steht heute noch.
Ein Blick zurück: Die Postkarte zeigt den alten Bahnhof (r.) von Gelsenkirchen mit dem hübschen Vorplatz. Das Gebäude des ehemaligen Postamts steht heute noch. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Die Altstadtkirche mit den Rundbogenportalen zeigt ebenfalls Muster aus Backstein, etwa ein Gitterraster. An dieser Stelle stand früher die alte Georgskirche, „wo alles angefangen hat.“ Im Halbrund gab es dort einst eine Häuserzeile, „die Rundhöfchen“.

Ein Bergmann mit hängenden Schultern

Wenige Schritte weiter, neben der wiederaufgebauten katholischen Augustinuskirche, liegt ein umgekippter Förderwagen, die Heilige Barbara ist zu sehen, die Schutzpatronin der Bergleute. Ein Mann sitzt neben ihr mit Stirnlampe und Schaufel – dem „Weiberarsch“. Seine Schultern hängen, sein Blick ist in die Ferne gerichtet – und scheint nach den Zechenschließungen nichts Erfreuliches mehr zu sehen. Das Werk des Künstlers Jürgen Goertz von 1996 heißt: „Glück auf!“

Die glücklichen Zeiten sind aufgebraucht? Nicht, wenn man den Weg zu Ende geht. Vera Sbierczik führt bis zum „Musiktheater im Revier“. Sie tanzt selbst Ballett und hat als Mädchen auf der Bühne des kleinen Hauses nebenan gestanden, in „Karneval der Tiere“.

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Die riesige Glasfassade ermögliche am Abend, dass die Menschen in der Innenstadt die Gäste in der Pause sehen können. „Die Zuschauer werden selber zu Akteuren.“ Das Betonrelief von Robert Adams wurde 1959 nicht einfach an der Fassade angebracht. Es wirkt wie aus einem Guss mit Eingang und Kassenhaus. Das war dem Architekten wichtig, so Sbierczik. „Werner Ruhnau wollte nicht Kunst am Bau, sondern einen Kunstbau.“ So ist auch die Farbe der Reliefs im Inneren sehr bewusst gewählt. Sie ist – wie soll es in Gelsenkirchen auch anders sein – ein Blau. Nicht Himmelsblau, nicht Königsblau, sondern das Blau, für das der Künstler Yves Klein weltberühmt wurde.

Wo wollten Sie schon immer mal hin, haben es aber bis heute noch nicht geschafft?
Vera Sbierczik: Nach Afrika! Gerne nach Namibia. Ich bin eine sehr großer Tierliebhaberin. Ich würde gerne die großen Tiere außerhalb des Zooms kennenlernen, Giraffen, Elefanten. Und in der Region? Hamm. Ich kenne den Gläsernen Elefanten in Hamm noch nicht.

Rundgänge und -fahrten auch in Duisburg, Essen, Bochum und Düsseldorf, 90 Minuten, ab 110 €, für maximal 20 Personen. Info: kohlekunstkultour.de