Hattingen. Lars Friedrich begleitet seine Gäste am liebsten im Gewand eines Hauptmanns. Selbst Alteingesessene werden zu Touristen in der Stadt Hattingen.

Schirme mag er nicht. Lars Friedrich würde niemals einen in die Hand nehmen, um – wie in anderen Städten üblich – seine Gäste durch Hattingen zu führen. Stattdessen folgen sie der Hellebarde, einer Waffe des Mittelalters, einer Kombination aus Speer und Axt. In der anderen Hand hält er eine Laterne, in der eine Kerze ihr warmes Licht verströmt. Aber der Stadtführer ist nicht nur in der Dämmerung unterwegs. „Ich bin kein Nachtwächter“, betont der 53-Jährige. Er schaut auch am Tag nach dem Rechten. Denn er ist der Hauptmann der St. Georgs-Bruderschaft.

Die Stadt beim Angriff verteidigt

Die Figur gab es nicht wirklich, aber die Bruderschaft seit 1403 schon. „In ihr waren die wehrhaften Bürger der Stadt Hattingen vertreten“, sagt Friedrich im weiten Wollumhang, auf dem St. Georg abgebildet ist – der Drachentöter ziert auch das Wappen der Stadt. Die Bruderschaft hat bei einem Angriff Hattingen verteidigt.

Die St. Georgs-Kirche in der Hattinger Altstadt.
Die St. Georgs-Kirche in der Hattinger Altstadt. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Nachtwächter-Touren gebe es auch in anderen Städten, doch einen Hauptmann habe nicht jeder Ort. Außerdem kann Friedrich so die Hattinger Altstadt auch tagsüber erkunden – und das gefällt seinen Gästen. Nicht jeden zieht es in der Dunkelheit nach Hattingen. Aber viele wünschen sich eine Begleitung im Gewand. Warum? „Einer Kunstfigur traut man mehr Anekdotenhaftes zu“, vermutet Friedrich. Das sei origineller als ein Mann mit Schirm und wirke nicht so zahlenlastig oder bierernst.

Die Blicke der Passanten geben ihm Recht: Menschen drehen sich um, der Vorsitzende des Heimatvereins ist stadtbekannt, aber in der Verkleidung hat ihn auch noch nicht jeder und jede gesehen. Eine ältere Dame macht Fotos mit dem Handy – „Sieht ja toll aus!“.

Sehenswürdigkeiten vor der eigenen Haustür

Früher kam nicht mal jeder zehnte Touren-Teilnehmer aus Hattingen, sagt Friedrich. Im vergangenen Jahr seien jedoch ein Drittel der rund 1000 Kunden seiner Stadtführungen Einheimische gewesen. Und das lag nicht nur am Gewand. Die Menschen interessierten sich vermehrt für die Sehenswürdigkeiten vor der eigenen Haustür. Friedrich nennt das neue Phänomen: „Der Tourist in der eigenen Stadt“.

Er führt zu den bekannten Gebäuden der Altstadt, etwa zu dem alten Rathaus mit der Stadtwaage davor. Im steinernen Unterbau gab es im 15. Jahrhundert eine Markthalle für Fleischwaren. Die Fenster sind vergittert. Dort waren auch mal die Zellen der Stadt und die Menschen etwa zur Ausnüchterung untergebracht, so Friedrich. Er hat die Straßenordnung für Hattingen aus dem Jahr 1831 dabei und bringt den Paragrafen 16 zu Gehör: „Wer bis zur Bewusstlosigkeit betrunken auf der Straße erscheint, wird bis zur Nüchternheit eingesperrt und mit 20 Silbergroschen bestraft.“

Das schmale Bügeleisenhaus

Der Trunkenbold konnte wenige Schritte weiter um Gottes Beistand bitten, in der St.-Georgs-Kirche mit dem schiefen Turm. Eine weitere Station: Das schmale Bügeleisenhaus aus dem Jahr 1611, das seiner Form wegen so genannt wird und eigentlich ein Museum zur Stadtgeschichte beherbergt, aber derzeit saniert wird.

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„Ach, kenne ich doch alles schon“, winkt da vielleicht der eine oder andere Hattinger ab. Aber er könne auch Alteingesessene immer wieder überraschen, so Friedrich, wenn er zum Beispiel erzählt, dass man mit alten Grabsteinen den Weg neben der Kirche gepflastert hat – „die Schrift nach unten“. Oder er mit der Hellebarde nach oben deutet und Hattinger feststellen, dass sie schon sehr oft durch die schmale Gasse zwischen Altem Rathaus und dem Haus Kirchplatz 1 gelaufen sind, ohne zu sehen, dass über ihnen zwischen den dicht stehenden Häusern ein transparenter Edelstahlwürfel des Klever Künstlers Günther Zins klemmt.

Bei dieser Tour durchquert Friedrich auch den westlichen Teil der Stadt, der im Zweiten Weltkrieg mehr zerstört wurde. Vorher zeigt er mit einem Finger anhand eines neuen Stadtmodells, welchen Weg er nun gehen wird. Sein Ziel, vorbei an der Stadtmauer, die in den 80er- und 90er-Jahren wieder aufgebaut wurde: das Zollhaus, das kleinste Fachwerkhaus in Hattingen.

Das kleinste Fachwerkhaus von Hattingen: das Zollhaus. Es heißt so, obwohl dort nie Kaufleute Zoll entrichten mussten.
Das kleinste Fachwerkhaus von Hattingen: das Zollhaus. Es heißt so, obwohl dort nie Kaufleute Zoll entrichten mussten. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Aber nicht dort, sondern etwas weiter an einem der fünf Stadttore hatten auswärtige Kaufleute einst den Zoll zu entrichten. Das war lange, bevor das Zollhaus gebaut wurde. Um 1820 ist es entstanden und somit für Hattingen noch vergleichsweise jung. Es war mal die Werkstatt eines Schmieds. Wer das Häuschen von der Seite betrachtet, erkennt den runden Unterbau. Dort stand früher ein Wehrturm. „Es gab mal sieben Türme in Hattingen“, erzählt der Hauptmann.

Das versteckte Fachwerk

Heute machen die vielen Fachwerkhäuser den Charme von Hattingen aus. Doch es gab eine Zeit, in der die Menschen sie nicht wie heute verzückt bestaunten. Fachwerk stand im 19. Jahrhundert für das Mittelalter. Und das wollte man endlich hinter sich lassen. „Es war verpönt“, sagt Friedrich. Kleine Fenster wurden durch große ersetzt. Und die Menschen, die das nötige Geld besaßen, bauten steinerne Bürgerhäuser. Doch nicht jeder konnte sich einen Neubau leisten. Was blieb den Leuten in Hattingen übrig? Sie versteckten das Fachwerk.

Beim schnellen Vorbeigehen sieht man es nicht: Stein, der gar kein Stein ist. Friedrich zeigt auf einen Giebel, „Scheinverquaderung“ nennt er diesen architektonischen Kniff. „Es ist Holz.“ Aber so bemalt, dass es wie Stein aussieht. Zum Glück für alle Fachwerkliebhaber gab es an vielen Stellen dann doch lieber Sein als Schein-Stein.

>> Wo wollten Sie schon immer mal hin, haben es aber bis heute noch nicht geschafft?

Ich würde unglaublich gerne mal nach Ägypten. Ich habe mich schon als Kind für Pyramiden und Pharaonen interessiert. Aber unter den gegenwärtigen politischen Bedingungen werde ich nicht dorthin reisen. Es kann ja ein Traumziel bleiben. In Deutschland würde ich gerne mal nach Bamberg fahren, zum Weltkulturerbe, zur Fachwerkperle. Und ich muss gestehen: Ich war noch nie in Kettwig – soll ja auch eine schöne Altstadt haben.

Lars Friedrich bietet rund 30 unterschiedliche Themenrouten an. Öffentliche Führungen mit 2G-Regel und Masken, max. 10 Personen, 1 Stunde, 10 € p.P. Auch private Gruppen, ab 55 €. Tel. 0175/ 419 419 5; hattingenzufuss.de