Essen. Was sich die Deutschen von ihren Städten wünschen, sind Qualitäten, die Dörfern zugeschrieben werden. Eine Studie offenbart viel Überraschendes.
Was hat Kettwig, was Vogelheim nicht hat? Haben Sie schon einmal neidvoll auf einen benachbarten Stadtteil geschaut? Oder sich gefragt, warum manche Dinge in der Nachbarstadt so reibungslos zu funktionieren scheinen, aber in der eigenen eben gar nicht? Nun, Städte entwickeln sich ja nicht von selbst! Und wenn doch, dann meist nicht zum Positiven. Man braucht immer Menschen im Hintergrund, um die Kurve nach oben zu bekommen. Und oft sind das Quartiersentwickler. Sie müssen wissen, was sich die Bürger wünschen – und was sie brauchen. Eine Studie mit 10.000 Teilnehmern ist nun dieser Frage nachgegangen.
Auch interessant
Das vielleicht verblüffende Ergebnis: Viele hätten gern mehr Dorfstrukturen in ihrer nächsten Umgebung. Von der „15-Minuten-Stadt“ spricht Lothar Schubert, geschäftsführender Gesellschafter von DC Developments, dem Auftraggeber der Studie. Das von ihm genannte Schlagwort lässt sich folgendermaßen lesen: Im idealen Stadtteil hat man alles, was man sich wünscht, in bequemer, fußläufiger Lage. Supermarkt, Bäcker, Schule, Kindergarten, Arzt und Naturerholung, möglichst dicht beieinander – und das in einer Nachbarschaft, mit der man sich selbst gut identifizieren kann. 69,4 Prozent der Befragten gaben an, dass sie ihre Nachbarn gern kennen wollen – und dass sie ein Verhältnis zu ihrem Wohnort haben möchten.
Mehr Lebensqualität im eigenen Stadtteil
Zugegeben: Wenn man diese Wünsche zuspitzt, dann klingt das alles ein wenig nach den Prenzlschwaben, die in Berlin einst massenweise in Prenzlauer Berg eingefallen sind, Straßenzüge eroberten, die Preise in die Höhe trieben. Doch dieses plakative Beispiel der gutbürgerlichen Übernahme eines Kiezes ist nur ein extremer Fall – und lässt sich in milder Abstufung auch anderswo finden.
Natürlich stellen Menschen immer gewisse Ansprüche an ihren Wohnort. In Hinsicht auf die dringendsten Bedürfnisse gibt die Studie Auskunft: „Knapp 70 Prozent wünschen sich in ihrer Umgebung den Nahversorger, knapp 51 Prozent möchten in ihrem Umkreis einen Park vorfinden, 45 Prozent achten darauf, ob ihr Wohnort gut angebunden ist und um die 38 Prozent legen Wert darauf, dass ihre Arbeitsstätte in der Nähe ist.“
Welcher Wohnort für welchen Menschen der beste ist, muss natürlich jeder für sich selbst entscheiden. Aber man kann schon etwas dafür tun, dass der eigene Stadtteil lebenswerter wird. „Es geht darum, dass man Netzwerke knüpft und Räume geschaffen werden, in denen die Menschen in Kontakt kommen können“, sagt Ilka Mainka (40) aus Wesel, die Sozialmanagement studiert hat und seit 2007 Berufserfahrung in Jobs sammelt, die mit Quartiersentwicklung und Sozialraumorientierung zu tun haben, zuletzt in Wesel und Neukirchen-Vluyn, seit Ende vergangenen Jahres in Kamp-Lintfort. Die Quartiersmanagerin hat viele, sehr niederschwellige Angebote ins Leben gerufen, „am besten welche, bei denen sich neue Teilnehmer nicht anmelden müssen“, sagt sie. „Walk & Talk“-Spaziergänge, Lesekreise, Vorträge. Oder Kino: mal für Kinder, mal kulinarisch, mal Café-Kino für die Älteren.
Das Auto bleibt auch heute noch wichtig
Auch interessant
Natürlich können auch Quartiersmanager nicht ohne Weiteres Probleme der Infrastruktur der Stadtteile lösen, wenn etwa ein Supermarkt fehlt… „Theoretisch könnte ich aber einen Dorfladen initiieren, das war durchaus schon einmal im Gespräch in der Vergangenheit, was dann genossenschaftlich organisiert wäre. Man braucht dazu immer ein paar Schlüsselfiguren im Stadtteil, das kann ich als Quartiersmanagerin natürlich nicht alleine“, sagt Mainka.
Sie sieht in der Studie vieles abgebildet, was ihr aus ihrer beruflichen Erfahrung bekannt vorkommt. „Kurze Wege zum Supermarkt, zum Bäcker, zum Arzt, zum Restaurant, so ist es einfach. Wenn man umzieht, dann schaut man sich um, was man braucht – und wo man das meiste schon vorfindet“, so Mainka.
Jüngere und Menschen in mittlerem Alter sind oft mobiler – und die Quartiers-Studie zeigt auch: Die Deutschen sind nach wie vor ein Volk der Autofahrer, „insgesamt bewegen sich die Deutschen mit rund 63 Prozent am liebsten mit dem eigenen Auto fort, danach folgen mit knapp 38 Prozent die eigenen Beine und knapp 22 Prozent bevorzugen öffentliche Verkehrsmittel.“ Wie groß die Neigung zu Bus und Bahn ist, hängt natürlich auch von der Verkehrssituation und dem Ausbau der Netze zusammen. Während in Berlin fast 36 Prozent der Befragten am meisten mit dem ÖPNV unterwegs sind und rund 42 Prozent zu Fuß, hat das Ruhrgebiet da noch viel aufzuholen. Zwischen Duisburg und Hamm dümpelt der ÖPNV zwischen 7 Prozent (Kreis Recklinghausen) und 18 Prozent (Dortmund) vor sich hin, wird also bestenfalls halb so gut angenommen, wie in der Hauptstadt. Immerhin gibt es hier Städte, in denen auch die Fortbewegung zu Fuß mit deutlich über 40 Prozent (Essen) abschneidet. Allerdings ist das wenig im Vergleich zum Autoverkehr in Gelsenkirchen: Stattliche 72 Prozent der Befragten gaben an, dass sie hier am meisten mit dem eigenen Auto unterwegs sind.
Kultur und Kulinarik: Wichtig, aber meist nicht ausschlaggebend
Bei der Wahl und Beurteilung des Wohnorts schlagen die „härteren“ Standortfaktoren wie Nahversorgung, Naherholung, kurze Pendlerwege und gute Infrastruktur einschließlich des Verkehrs die „weicheren“ Standortfaktoren: Ein gutes kulturelles Programm (23 Prozent) und das kulinarische Angebot (22,3 Prozent) liegen recht weit hinten, wenn auch noch auf deutlich sichtbaren Plätzen.
Was kann das für die Entwicklung der Stadt der Zukunft heißen? „Verdorfung ist ein wichtiger Bestandteil für eine erfolgreiche Urbanisierung“, stellt Lothar Schubert fest. Denn: „Wenn alles zu Fuß erreicht werden kann, bin ich nicht dazu gezwungen, mein ,Dorf‘ zu verlassen, in der Folge rücken Menschen näher zusammen.“