Bochum. Die Web-Individualschule in Bochum unterrichtet Jugendliche in ganz Deutschland. Jetzt bedroht eine Absage der Bezirksregierung deren Abschlüsse.
„Die Entscheidung der Bezirksregierung Arnsberg ist eine richtige Katastrophe für mich“, sagt Lena verzweifelt. Die 22-jährige Frau kommt aus Niedersachsen und hat eine lange Krankheitsgeschichte hinter sich: Sie ist nierentransplantiert, musste jahrelang immer wieder in die Klinik, ein regulärer Schulabschluss war unmöglich. „Schon eine kleine Erkältung kann bei mir zu einem schweren Infekt und im schlimmsten Fall zur Abstoßung der Nieren führen.“
Hoffnung und Hilfe fand Lena in der Bochumer Web-Individualschule. Die Einrichtung unterrichtet körperlich oder psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche aus ganz Deutschland per Skype, Lena konnte sogar im Krankenhaus am Unterricht teilnehmen. So gelang es der Schülerin in den vergangenen zwei Jahren nicht nur, den verpassten Stoff aus der Schulzeit nachzuarbeiten, sie konnte sich auch auf einen Realschulabschluss vorbereiten und träumt nun von Abitur und Studium. Doch diese Ziele rücken aktuell in weite Ferne. Denn: Die Bezirksregierung Arnsberg, die die Prüfungen der Schüler der Bochumer Einrichtung im vergangenen Jahr übernommen hat, kündigte die Kooperation Anfang Dezember plötzlich auf – zwei Monate vor Anmeldeschluss. Grund sei die zu hohe Anzahl der Prüflinge.
Bezirksregierung sieht sich überfordert
Von ihnen gab es im vergangenen Jahr noch 42. „Davon kamen rund 80 Prozent aus anderen Bundesländern“, heißt es in einer Erklärung aus Arnsberg. „Daneben fanden 412 Externenprüfungen mit Schülerinnen und Schülern aus dem Regierungsbezirk Arnsberg statt, die sich bei anderen Bildungsträgern auf die Prüfung vorbereitet hatten. Für dieses Jahr sind bisher mehr als 100 Prüfungen von Seiten der Web-Individualschule angekündigt worden“, heißt es in einer Mitteilung aus Arnsberg. Diese Größenordnung würde die organisatorischen und personellen Möglichkeiten der Bezirksregierung Arnsberg weit übersteigen“, heißt es weiter.
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Entsetzen über die Entscheidung
Deshalb habe man entschieden, „dass im Jahr 2022 nur noch für diejenigen Schülerinnen und Schüler eine Prüfungsmöglichkeit bereitgestellt werden kann, die aus Bundesländern kommen, bei denen die Anmeldemöglichkeiten für Externenprüfungen bereits abgelaufen sind. Dies gilt für die Bundesländer Baden-Württemberg, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt“, so die Erklärung aus Arnsberg.
Die Leiterin der Web-Individualschule, Sarah Lichtenberger, reagiert entsetzt über diese Entscheidung. „70 von 120 Schülern hängen aktuell in der Luft. Sie sollen sich am 1. Februar nicht in Arnsberg, sondern an ihrem Wohnort zur Abschlussprüfung anmelden.“ Was im ersten Augenblick nach einem plausiblen Vorschlag klingt, stellt die Schüler vor mitunter nicht überwindbare Probleme. Denn jedes Bundesland hat eine eigene Prüfungsordnung und unterschiedliche Fächerkombinationen. Prüflinge, die sich für einen Abschluss in NRW vorbereitet haben, lernten zum Beispiel für Biologie. In Niedersachsen wird jedoch in Chemie oder Physik geprüft, was bedeutet, dass die Schüler sich den Stoff aus zwei Jahren nun in wenigen Monaten komplett aneignen müssten.
Lena sieht ihren Abschluss gefährdet
Wie sie das schaffen soll, weiß Lena nicht. „Um in den Abiturjahrgang wechseln zu können, brauche ich mindestens einen Notendurchschnitt von 3, der durch die Absage von Arnsberg jetzt natürlich gefährdet ist. Hinzu kommt, dass ich das Jahr auch nicht einfach wiederholen kann, weil für mich keine Schulpflicht mehr besteht. Deshalb werden die Kosten für die Web-Individualschule kein weiteres Jahr übernommen.“
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Sarah Lichtenberger hatte der Bezirksregierung verschiedene Vorschläge zur Unterstützung des Personals präsentiert – bisher ohne Erfolg. „Wir haben vorgeschlagen, dass die Kinder an einer Kooperationsschule geprüft werden, die uns unterstützen wollte. Wir haben angeboten, auf eigene Kosten Seminarräume in unserer unmittelbaren Umgebung anzumieten. Die Kinder wären zu uns gekommen, und die Bezirksregierung hätte lediglich ihre Prüfer schicken müssen. Dann haben wir versucht, aus verrenteten Lehrern eines Bochumer Gymnasiums eine eigene Prüfungskommission zusammen zu stellen. Letztendlich wurde kein Vorschlag von Seiten der Regierung weiterverfolgt.“
Die Schulleitung, ihre Schüler und Eltern fürchten nun um den Abschluss der Prüflinge. Ohne diesen schwinde die Chance der Jugendlichen, sich einen gefestigten Platz in unserer Gesellschaft zu erarbeiten. „Das haben unsere Schüler nicht verdient. Sie haben sich trotz eines großen Rucksacks voller Probleme aufgerappelt und kämpfen für ihre Zukunft.“
Stolperstein statt Meilenstein
Am 19. Januar wird das Thema im Ausschuss für Schule und Bildung diskutiert, außerdem lässt sich die Bochumer Einrichtung jetzt auch anwaltlich vertreten. Sarah Lichtenberger sagt: „Ich finde es unfair, dass die Schüler so kurz vor Erreichen eines bedeutenden Meilensteins auf diesem Weg hängengelassen werden. Deshalb kämpfe ich für sie.“
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