Essen. Expertinnen greifen die Thesen des heute umstrittenen Jugendpsychiaters Michael Winterhoff an. Sie sagen: Kinder brauchen feinfühlige Eltern.

Kinder sind keine Tyrannen. Sie schreien, weil sie etwas brauchen, und nicht, weil sie ihre Eltern ärgern wollen. Sie werfen ihren Löffel vom Tisch, weil sie satt sind. Sie trödeln, weil sie noch kein Zeitgefühl haben; rollen Klopapier ab, weil sie neugierig sind. Kinder brauchen keine Disziplin, keine Hierarchien, sondern Eltern, die auf ihre Bedürfnisse eingehen. So sollte sich Erziehung, ein Zusammenleben in Familien gestalten. Das sagen diejenigen, die sich der so genannten beziehungs- und bedürfnisorientierten Erziehung verschrieben haben.

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Wenn Kinder Auffälligkeiten zeigen, liege das meist an einer zu engen Beziehung, an einer „Symbiose“ zwischen den Kindern und ihren Eltern, sagt hingegen Michael Winterhoff. Jahrzehntelang galt er als Koryphäe der Kinder- und Jugendpsychiatrie, veröffentlichte Elternratgeber, darunter im Jahr 2009: „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ – ein Besteller. Er vertrat seine Ansätze in Talkshows wie „Markus Lanz“, „Maischberger“ und „Anne Will“. Seine Lösung der Probleme: Eltern müssen ihren Kindern klar überlegen sein, sie dominieren. Nur dann könne „frühkindlicher Narzissmus“, also krankhafte Selbstliebe, vermieden werden. Der Bonner Psychiater spricht sich aus für eine „Pädagogik der Disziplin“ und eine Rückkehr zum autoritären Erziehungsstil, von dem die Gesellschaft jüngst fatalerweise abgekommen sei.

#BeziehungIstDerNeueMainstream

Populär, aber mittlerweile umstritten: Michael Winterhoff.
Populär, aber mittlerweile umstritten: Michael Winterhoff. © picture alliance / Frank May | Frank May

Im August dieses Jahres strahlte der WDR die Dokumentation „Warum Kinder keine Tyrannen sind“ aus, die Winterhoffs Diagnosemethoden und Medikamentenvergabe anprangert. Es entbrannte eine öffentliche Debatte, auch über seine Pädagogik. Unter dem Hashtag #BeziehungIstDerNeueMainstream trugen Psychologinnen, Familiencoaches, Psychotherapeutinnen und Autorinnen, die sich dem beziehungs- oder auch bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehungsstil verschrieben haben, auf Instagram zur Debatte bei. Sie griffen die sieben Winterhoff-Thesen auf, um sie zu widerlegen. „Egozentrisches Verhalten bei Kindern ist bedenklich“, so eine der widerlegten Thesen, „Kinder brauchen ein distanziertes Gegenüber“ eine andere.

Mit dabei waren Nicola Schmidt und Inke Hummel. Beide sind seit vielen Jahren in der Familienberatung tätig, beide sind selbst Autorinnen von Erziehungsratgebern und haben damit großen Erfolg. Nicola Schmidt landete mit mehreren Büchern, darunter „Erziehen ohne Schimpfen“, „Der Elternkompass“ oder der „artgerecht“-Reihe auf der Spiegel-Besteller-Liste. Inke Hummel ist aktuell mit ihrem neuen Elternratgeber „Mein wunderbares wildes Kind“ auf Lesereise.

„In der Forschung ist ganz klar, dass die autoritäre Erziehung schadet.“

Widerlegt Winterhoff: Nicola Schmidt.
Widerlegt Winterhoff: Nicola Schmidt. © Natalie Menke | Natalie Menke

Für Nicola Schmidt (44), die Politikwissenschaft studierte und einige Jahre als Wissenschaftsjournalistin arbeitete, bevor sie nach der Geburt ihres ersten Kindes das „artgerecht-Projekt“ gründete, steht die Wissenschaft im Mittelpunkt. Sie sagt: „In der Forschung ist ganz klar, dass die autoritäre Erziehung schadet.“ Dabei möchte sie klarstellen: „Bindungsorientierte Erziehung ist keine neue Mode oder ein Gegenpol zu Winterhoff oder eine andere Ideologie. Es ist schlicht der Stand der Wissenschaft, dass Kinder feinfühlige Erwachsene brauchen, um sich beruhigen zu können, empathisch zu sein, freundlich zu sein, Regeln und Grenzen zu lernen.“ Sie vertrete also keine neue Mode, sondern das, was wissenschaftlich belegt gut für Eltern und für Kinder sei.

Für die Aktionswoche griff Nicola Schmidt die Winterhoff-These „Babys sind nicht beziehungsfähig“ auf. Dazu sagt sie: „Babys sind von Natur aus beziehungsfähig – und was sie noch nicht kennen, lernen sie von beziehungsfähigen, feinfühligen und liebevollen Eltern.“ Kinder lernten respektvollen Umgang also nur dann, wenn sie ihn vorgelebt bekommen; ohne jede Form der Herablassung oder Demütigung. Je häufiger Babys in den ersten Monaten also gestreichelt und umsorgt würden, desto mitfühlender und beziehungsfähiger würden sie später, so Schmidt. Und es seien eher Disziplin, unempathische Eltern, Ignorieren oder zu hohe Forderungen wie ‚schlaf durch‘ oder ‚beruhige dich selbst‘, die zu Persönlichkeitsstörungen führen können.

„Nicht autoritär, aber auch nicht überfürsorglich sollte die Erziehung sein.“

Gegen eindimensionale Betrachtungsweisen: Inke Hummel.
Gegen eindimensionale Betrachtungsweisen: Inke Hummel. © Benjamin Jenak | Benjamin Jenak

Inke Hummel (44) aus Bonn griff für #BeziehungIstDerNeueMain­stream diese Winterhoff-These auf: „Es ist gut, aus psychischen Krankheitsbildern praktische Erziehungs-Tipps abzuleiten“. Dabei sei das eigentlich keine These, sondern eine Methode, die zu einer verallgemeinernden Erwartungshaltung der Eltern führe. „Wenn Winterhoff sagt, auffällige Kinder von überhütenden Müttern seien abhängige Kinder, dann ist das ein eindimensionaler Blick und zu einfach, um daraus einen allgemeingültigen Blick abzuleiten.“

Für Hummel ist der Mittelweg zwischen autoritärer und laissez-fairer (das Kind sich selbst überlassender) Erziehung das Ideal: „Nicht autoritär, aber auch nicht überfürsorglich sollte die Erziehung sein“, erklärt sie ihren bindungsorientierten Ansatz. Es ginge vielmehr darum, im Miteinander und in Kompromissen zueinander zu finden. „Man kann durchaus Grenzen setzen, aber ich gehe nicht weg, sondern bleibe in Beziehung zum Kind.“ Statt es zur Strafe beispielsweise in sein Zimmer zu schicken. „Sich nicht abzuwenden, aber auch nicht zu doll zu handeln, zu lernen, dass es Krisen geben kann, aber eben gemeinsam durch die Krisen zu gehen, das ist beziehungs- und bindungsorientierte Erziehung“, so Hummel. Und damit das, was Michael Winterhoff als krankmachend bezeichnen würde.

Auf Instagram hat die Kampagne einen Nerv getroffen. Innerhalb von nur 48 Stunden folgten 30.000 Menschen diesem Hashtag.

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In einem Kursraum in Essen-Holsterhausen haben es sich Mütter mit ihren Kleinkindern auf dem Boden gemütlich gemacht. Die Kinder krabbeln oder tapsen auf noch wackeligen Beinchen umher, während ihre Mütter die Frühstücksdosen auspacken. Kursleiterin Silke Hohmann sitzt zwischen ihnen, und nach dem Begrüßungslied liest sie aus einem kleinen Buch vor. Ein ganz normaler Eltern-Kind-Kurs? Auch hier wird gespielt, tauschen sich Eltern über Themen der Kleinkindzeit aus. Hohmann gestaltet ihn jedoch nach bedürfnisorientierten Erziehungsmustern und stellt jedes Treffen unter ein bestimmtes Thema: Trocken-Werden, Teilen oder kindliches Lügen. Dieses Mal ist es geschlechtsspezifische Erziehung, die auch durch Spielzeug verstärkt wird. So hat Hohmann Puppen mitgebracht, die alle lediglich „Mama“ sagen, so dass sich nur Mädchen damit identifizieren. „Die Klischees, wie zum Beispiel: Männer dürfen nicht kuscheln und zärtlich sein. Oder: Jungs dürfen nicht mit Puppen spielen, führen zu einer Erziehung nach eingefahrenen Geschlechterrollen.“„Es geht darum, aus den alten Denkmustern rauszukommen“, sagt die 42-Jährige im Anschluss. „Alte Erziehungsmuster sitzen tief in unserem Gehirn. Früher gab es sehr starke Regelungen: Eltern oben, Kinder unten. Weil viele Muster aber schädlich für Kinder sind, möchte ich das aufbrechen und Eltern Alternativen aufzeigen.“Silke Hohmann ist mit ihrem Kleinunternehmen Familienleben.Ruhr Teil eines Netzwerks: Im Verein „Bindungs(t)räume“ möchte sie gemeinsam mit anderen Mitgliedern Eltern helfen, Angebote zu finden, bei denen nicht vermittelt wird, dass Kinder Tyrannen sind. Mehr Info unter bindungstraeume.de