Essen. Doch, du musst das jetzt machen!Wie es gelingen kann, Grenzen zu setzen, erzählen eine Mutter aus Essen, ein Pädagoge und ein Familientherapeut.

Wenn „Räupchen“ mal wieder keine Socken, keine Schuhe anziehen möchte, bevor die Familie das Haus verlässt, dann versucht Mama Anna Sophie nicht zu drohen, nicht entnervt loszuschreien. Sie lässt ihr „Räupchen“ barfuß nach draußen gehen – und die Vierjährige merkt: Es ist kalt, ich ziehe doch besser Schuhe an.

Meistens klappt das; das mit dem Schuhe-Anziehen und das mit dem Ruhigbleiben. Und wenn der siebenjährige „Hübchen“, wie neulich, den Fußboden anmalt, sagt die Mutter ihm, dass er das nicht darf. In Ruhe und mit einer Erklärung. Als „Strafe“ geben die Eltern ihm einen Radiergummi in die Hand, damit er die Fußbodenzeichnungen selbst wieder entfernt.

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„Hübchen“, so nennt Anna Sophie Pietsch ihren Sohn liebevoll. Die Tochter heißt „Räupchen“, das wenige Wochen alte Baby hat noch keinen Spitznamen. Wie viele Eltern hat sie sich mit ihrem Mann Marius (40) Gedanken über das Thema gemacht: Wie setzen wir unseren Kindern Grenzen? „Bei uns gibt es keine willkürlichen Grenzen und keine Bestrafung, zum Beispiel Fernsehverbot“, sagt die 34-Jährige. „Grenzen, dass es zum Beispiel nicht geht, den Fußboden anzumalen, gibt es schon. Aber eben natürlich und nicht willkürlich.“ Dabei weiß die Mutter: Kinder müssen Dinge sehr oft hören, um sie zu verstehen. Und wer schreit, ist Pietsch überzeugt, der wird nicht verstanden. „Unsere Verantwortung als Eltern ist es ja, den Kindern beizubringen, wo sie übers Ziel hinausgeschossen sind, altersabhängig. Wir müssen ihnen Respekt und Wertschätzung für Menschen und Dinge beibringen“, ist die Mutter überzeugt, „aber eben nicht mit der Holzhammermethode, nicht mit Schreien oder Strafen.“

„Für die Erziehung ist Gehorsam notwendig...“

Die Regeln bei den Pietschs hängen am Kühlschrank.
Die Regeln bei den Pietschs hängen am Kühlschrank. © Fabian Strauch / FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

Dass Kinder Grenzen brauchen, davon ist man in der Erziehung seit jeher und fast durchgängig überzeugt. Nur wird dieses Grenzen-Setzen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder neu interpretiert. „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es!“ Nach diesem Grundsatz erzog die patriarchal geprägte Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts ihre Kinder: Zucht und Ordnung, Befehl und Gehorsam waren die Leitlinien, Prügel ein Instrument der Erziehung. Johann Georg Sulzer, ein Schweizer Theologe und Philosoph, der im 18. Jahrhundert lebte, schrieb: „Für die Erziehung ist Gehorsam notwendig, weil er dem Gemüt Ordnung und Unterwürfigkeit gegen die Gesetze gibt. Dieser Gehorsam ist so wichtig, dass eigentlich die ganze Erziehung nichts anderes ist, als die Erziehung des Gehorsams.“ Klare Hierarchie zwischen Kindern und Eltern, klare Regeln, deren Missachtung betraft wird, kein Mitspracherecht für die Kinder, sondern unbedingter Gehorsam, waren auch danach noch lange die Leitlinien. Was mit einigen Zwischenimpulsen durch Reformpädagogen wie Maria Montessori oder Johann Heinrich Pestalozzi bis in die 1960er Jahre hinein als Non-Plus-Ultra der Erziehung galt, klingt heute in den Ohren der meisten Eltern altmodisch und grausam.

Doch auch die antiautoritäre Erziehung ohne Zwänge ist längst überholt. Pädagogen sind sich einig: Kinder brauchen (auch) Grenzen. Denn die sind wichtig, um angstfreie, kreative, glückliche Menschen beim Heranwachsen zu unterstützen. Anna Sophie und Marius Pietsch haben sich für einen Ansatz entschieden, der noch vor kurzem unvorstellbar gewesen wäre, heute aber so oder ähnlich von vielen Experten empfohlen wird.

„Man muss Grenzen immer von zwei Seiten betrachten.“

Familientherapeut Achim Schad.
Familientherapeut Achim Schad. © Privat | Privat

Achim Schad, Familien-Therapeut aus Wuppertal und Autor des Buchs „Kinder brauchen mehr als Liebe. Klarheit, Grenzen, Konsequenzen“, definiert diese Grenzen so: „Man muss Grenzen immer von zwei Seiten betrachten. Zum einen ist Grenzüberschreitung bei Kindern normal und gehört zur Entwicklung und Potenzialentfaltung dazu. Zum anderen dienen Grenzen zur Orientierung und geben Struktur. Sie geben Kindern Schutz für sich selbst und für andere.“ Der 68-Jährige gibt Elternkurse und betreibt mit seiner Frau eine therapeutische Familienpraxis. Was das Thema „Grenzen“ angeht, sieht er unter Eltern heute eine große Unsicherheit: „Die Eltern-Kind-Hierarchie hat sich geändert“, erklärt er. „Schon der Begriff Hierarchie löst heute Unbehagen aus und erinnert an die alte autoritäre Pädagogik mit dem Prinzip von Befehl und Gehorsam. Aber hier hat es ein Missverständnis gegeben. Ganz ohne Hierarchie kommt eine Eltern-Kind-Beziehung nicht aus.“ Eine echte partnerschaftliche Beziehung, wie von manchen Pädagogen empfohlen, sei nicht möglich. Denn in einer echten Partnerschaft müssten beide gleichberechtigt entscheiden können. Und das sei zwischen Eltern und Kindern weder erstrebenswert noch möglich.

Keine schwammigen Fragen

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„Im Umgang mit Kindern müssen Eltern bei aller Abflachung der Hierarchie, bei allem Dialogischen, das sich entwickelt hat, klar haben: Sie haben letztendlich die Verantwortung für das, was entschieden wird.“ Wer schwammig Fragen stellt wie: „Willst du nicht dein Zimmer aufräumen?“ Oder: „Willst du nicht mal duschen?“, der müsse sich fragen, was er sein Kind eigentlich entscheiden lassen möchte. Eltern würden dann ärgerlich, fielen vom „Pseudopartnerschaftlichen“ ins Autoritäre zurück.

Und wenn dem Kind die Orientierung fehlt, so Schad, passiert Folgendes: „Systeme haben eine Neigung, eine Hierarchie zu bilden. Wenn ich nicht die Führung übernehme, fangen die Kinder an, die Chefrolle einzunehmen.“ Sie kommandierten die Eltern oder testeten, wie viel sie bestimmen können. Sie merken: Keiner will führen? Also mache ich das.

„Wo kann ich etwas wirklich bestimmen?“

Und während man kleineren Kindern über die Handlungsebene Grenzen setzen könne – bei einem Streit dazwischen gehen, das Kind bei Bedarf wegtragen, Gebrüll vor der Eisdiele um eine zweite Kugel aussitzen – geht das bei älteren Kindern immer weniger. „Je älter die Kinder werden, desto mehr muss ich überlegen: Wo kann ich etwas wirklich bestimmen und wo muss ich dem Kind die Folgen seines Verhaltens einfach zugestehen“, sagt Schad. Keine Schuhe: kalte Füße. Kein Lernen für die Schule: Sitzenbleiben. „Wenn ich aber immer noch so tue, als könnte ich bestimmen, wie viel zum Beispiel der 13-Jährige lernt, dann wird das eher eine Gängelung, die zu Protest, Widerstand und Verweigerung führt“, so der Familientherapeut. Altersgemäß die Verantwortung zu übertragen, das sei das A und O, das Geheimnis beim Grenzen-Setzen.

Eugen Siepmann von der AWO Essen.
Eugen Siepmann von der AWO Essen. © AWO Essen | Awo Essen

Eugen Siepmann von der AWO Essen und Mitentwickler des Elternkurses TAFF: „Grenzen dienen zur Orientierung und als Wegweiser durchs Leben“, so der 65-Jährige. „Man braucht nicht unbedingt Strenge, man braucht Klarheit.“ Eltern sollten viel laufen lassen. Und nur wenn es absolut nötig ist, sehr deutlich werden. Beim Grenzen-Setzen sollte es keine Strafen und kaum Verbote geben. Wer aber keine Grenzen gezeigt bekommt, keine Regeln, der, „hat nicht gelernt, andere Bedürfnisse zu akzeptieren oder Rücksicht zu nehmen.“

>>> Die Experten

Anna Sophie Pietsch betreibt den Blog kinderhaben.de. Sie schreibt über das Leben mit ihren drei Kindern, den Spagat zwischen Familie und Beruf.

Achim Schad hält Vorträge und gibt Kurse zu: „Familienkonflikte verstehen und lösen“, „Umgang mit Wut und Aggression bei Kindern“ und zum Grenzen-Setzen.

Eugen Siepmann hat den Elternkurs TAFF mitentwickelt. Eltern tauschen sich aus, finden im Dialog Lösungen: Wie unterstütze ich mein Kind dabei, seine Fähigkeiten zu entwickeln? Oder: Wie viele Grenzen und Regeln brauchen wir? Info: awo-essen.de