Köln. In NRW hat ein Gesundheitskiosk für sozial Benachteiligte eröffnet. Das Team berät, vermittelt und unterstützt.

Lina* liebt Musik. Die Fünfjährige greift ein hölzernes Glockenspiel aus der Spielzeugkiste und trägt es zum Tisch. Sie schlägt eine Tonfolge an, beliebig, und doch klatscht ihre Mutter lobend Beifall. Man könnte natürlich sagen, dass Eltern in solchen Situationen so etwas immer tun. Doch Elenas Geschichte ist eine besondere.

Als sie vor zwei Jahren in eine Kölner Kita kam, fiel auf, dass Lina nicht mit anderen Kindern spielte. Sie sprach nicht, war abwesend. Die Eltern vermuteten, dass ihre Flucht aus dem Iran das Kind traumatisiert haben könnte, die Mischung aus Persisch zu Hause und Deutsch überall sonst es überforderte. An wen sie sich wenden sollten, wussten die Eltern in dem für sie fremden Land nicht. Es war die Kita-Leitung, die die richtige Nummer wusste.

Sie vermittelte Lina und ihre Eltern an ein Modellprojekt, das im Schatten der Hochhäuser von Köln-Chorweiler in einem niedrigen, mit stilisierten Menschen beklebten Geschäftslokal angesiedelt ist und seinen Auftrag im Namen trägt: die Kümmerei.

Gesundheitsnetzwerk versteht sich an Anlaufstelle für sozial Benachteiligte

So nennt sich ein Gesundheitsnetzwerk, das sich als Anlaufstelle für sozial benachteiligte Bewohner und Bewohnerinnen des gebeutelten Stadtteils im Kölner Norden versteht. Die Idee: Menschen sollen hier niederschwellige, kultursensible und für sie kostenfreie Beratungsangebote finden sowie Unterstützung etwa bei Anträgen und Begleitung zu Ärzten und Ärztinnen erhalten.

Zusammen 13 Sprachen sprechen die Mitglieder des Teams, zu dem Medizinische Fachangestellte, Kranken- und Pflegefachkräfte sowie Fachleute der Gesundheitswissenschaften gehören. Es ist der erste Gesundheitskiosk dieser Art in NRW. Ein ähnliches Projekt ist im Essener Norden geplant.

Pandemie hat Ungleichheiten in Gesundheitsfragen noch verstärkt

Gesundheit hängt auch in Deutschland stark von sozialen Faktoren ab. Zwar gehört das deutsche Gesundheitssystem mit seiner hohen Krankenhausbetten- und Ärztedichte zu den umfangreichsten in Europa. Selten war zudem so viel Geld im System wie aktuell – die Gesundheitsausgaben lagen 2020 bei dem Rekordwert von schätzungsweise 425 Milliarden Euro. Dennoch haben Menschen mit niedrigem sozialen Status, geringerem Bildungsniveau und minderer beruflicher Stellung ein höheres Risiko für bestimmte chronische Krankheiten.

Die Kümmerei befindet sich im Zentrum von Köln-Chorweiler.
Die Kümmerei befindet sich im Zentrum von Köln-Chorweiler. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Der Gesundheitsbericht des Robert-Koch-Instituts zeigt zudem, dass Angehörige sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu einem größeren Anteil früher sterben als Angehörige sozial besser gestellter Gruppen. Vorsorgen werden seltener genutzt und gerade Zugewanderte mit Sprachbarrieren haben seltener einen Hausarzt. Die Pandemie hat Ungleichheiten laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung verschärft.

Beratungen im Hausflur und auf der Parkbank

An dieser Stelle will die Kölner Kümmerei als eine Initiative des Sozialunternehmens „HNC HerzNetzCenter“, der Stadt Köln und der AOK Rheinland/Hamburg ansetzen. Birgit Skimutis, Leiterin der Kümmerei, beschreibt ihren Auftrag so: „Es gibt Menschen, die unser Gesundheitssystem schwer erreicht werden, solche, die kaum erreicht werden und welche, die unsichtbar sind. Um all diese Menschen geht es uns.“ Ziel sei nicht, für sie neue Gesundheitsangebote zu schaffen. Vielmehr solle Vorhandenes besser vernetzt und zugänglich gemacht werden. „Wir sind wie die Schmiere zwischen Knie und Knorpel“, sagt die Sozialpädagogin, „wir beraten, begleiten und vermitteln, damit es läuft.“

Mitte 2019 hat Skimutis damit begonnen, zu Akteuren des Chorweiler Gesundheits- und Sozialgeschehens Kontakte aufzubauen. Ursprünglich sollte sie zwei Jahre zum Netzwerken haben – doch Anfragen kamen früher als erwartet etwa von Praxen, die bei ihren Patienten und Patientinnen Beratungs- und Hilfebedarf über das Medizinische hinaus feststellten. „Wir haben sofort losgelegt und die Menschen beraten, wo es gerade ging, im Hausflur oder auf der Parkbank“, sagt Skimutis.

Stadtteilmutter begleitete Familie zu Kliniken

Sie setzte dabei auf Menschen wie Nahid Arvani. Die 61-Jährige war bereits als eine Art „Stadtteilmutter“ in Chorweiler unter zugewanderten Familien bekannt, als sie für die Kümmerei Aufgaben übernahm und sich um die kleine Lina kümmerte. Die gebürtige Iranerin suchte mit Vater und Tochter Kinderarzt und Kliniken auf, half bei Terminkoordination und Sprachbarrieren. Die Diagnose: Lina ist Autistin. Das Mädchen besucht inzwischen Logopäden und therapeutische Angebote. Sie teilt sich mit - über Laute. „Wir sind glücklich“, sagt die Mutter bei ihrem Besuch in der Kümmerei. Arvani fügt hinzu: „Vor einem Jahr hätte Lina für uns keine Musik gemacht, sie hätte in der Ecke gestanden und vor sich hingestarrt.“

Bis Ende 2024 läuft das Modellprojekt in Köln. Seit Oktober beteiligt sich auch die IKK Classic daran. Angaben zu den Kosten macht die AOK mit Verweis auf Vertragsverhandlungen für weitere Vorhaben etwa in Duisburg-Marxloh nicht. Die finanzielle Beteiligung der Kassen orientiere sich aber am Versichertenanteil des Versorgungsgebietes. Perspektivisch werde sich die Stadt Köln ebenfalls beteiligen.

AOK: Gleiche Gesundheitschancen schaffen

Zu den Netzwerkpartnern gehört das Jobcenter, dessen Fallmanagerinnen und Fallmanager Menschen mit oft vielfältigen Problemstellungen in Arbeit bringen sollen – auch mit gesundheitlichen. Allzu oft stünden genau diese Probleme im Weg, wenn es darum gehe, den Schritt zurück in den Arbeitsmarkt zu finden, sagt eine der Fallmanagerinnen. „Wir merken, dass sich Problemlagen oft bedingen.“ Diese Menschen aber zur Arztpraxis oder Beratungsangeboten zu begleiten, könne das Jobcenter nicht leisten - nun vermitteln die Mitarbeitenden an die Kümmerei.

Die AOK Rheinland/Hamburg hält niederschwellige Angebote insbesondere für sozial und ökonomisch schlechter gestellte Stadtteile für notwendig. AOK-Vorstand Matthias Mohrmann sagte kurz nach dem offiziellen Start der Kümmerei, alle Menschen müssten die gleichen Gesundheitschancen haben. Gerade in Stadtteilen mit einer überdurchschnittlichen Krankheitslast bedürfe es einer guten Koordination. „Es geht darum, die Gesamtproblemlage zu erfassen“, sagte er.

Versichertendaten zeigen: Menschen in Chorweiler stärker von Krankheiten betroffen

Die Kasse zieht zum Beweis den Vergleich zwischen Chorweiler und dem begehrten Kölner Vorort Lindenthal. Menschen in Chorweiler sind laut AOK-Versichertendaten zu 48 Prozent häufiger adipös und erkranken entsprechend häufiger an Diabetes als Menschen in Lindenthal. Sie sind zudem häufiger chronisch lungenkrank. Mit Folgen: Je 100.000 Menschen kommen in Chorweiler 825 Fälle etwa wegen Atemwegserkrankungen ins Krankenhaus – in Lindenthal sind es mit 451 nahezu halb so viele. Auch insgesamt sind Menschen aus Chorweiler häufiger im Klinikum als Menschen aus Lindenthal, wenn man der AOK-Statistik folgt.

Rosa Boni (re, 81) gehört zu den Menschen aus Chorweiler, die in der Kümmerei eine Anlaufstelle finden. Zum Team dort gehören auch Nicole Tervooren (l.) und Katharina Lenz.
Rosa Boni (re, 81) gehört zu den Menschen aus Chorweiler, die in der Kümmerei eine Anlaufstelle finden. Zum Team dort gehören auch Nicole Tervooren (l.) und Katharina Lenz. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Die Nachfrage nach Beratung sei groß, sagt Kümmerei-Leiterin Skimutis. Inzwischen gebe es eine Warteliste. Darüber sei sie keineswegs froh, sagt sie und erzählt von Teambesprechungen, bei denen sie oft Gänsehaut bekomme. „Da fragt man sich schon, was mit bestimmten Menschen geschehen wäre, wenn wir nicht da gewesen wären.“

Anlaufstelle und Hilfe bei Pflege-Fragen: „Ein Stück vom Glück erlebt“

Und manchmal geht es auch um eine Anlaufstelle. Rosi Boni ist eine freundliche ältere Dame von 81 Jahren, deren bewegter Lebensgeschichte als Russlanddeutsche man bei einem heißen Tee in der Kümmerei stundenlang folgen könnte. Ihre Hausärztin habe ihr schon früh gesagt, dass sie sich Hilfe im Alltag holen solle, sagt Boni. Aber sie sei lange allein klargekommen. „Dann ging es nicht mehr und ich kam hierher“, sagt die frühere Hochschuldozentin. Zwei Mitarbeiterinnen der Kümmerei standen ihr zur Seite - vom Antrag auf einen Pflegegrad bis zur Suche nach einem ambulanten Pflegedienst und einer Hilfe im Haushalt.

Boni hat zum Dank sogar ein Gedicht verfasst hat, das sie vor der Journalistin auch gleich vorliest. In der Kümmerei, schreibt sie, habe sie ein Stück vom Glück erlebt.

* Name der Redaktion bekannt.