Köln. In seinem Buch schreibt Feuerwehrmann und Rettungskraft Jörg Nießen über seine skurrilsten Erlebnisse – und von zunehmenden Angriffen auf Helfer.
„Wenn ich vor 25 Jahren mit einer roten Hose unterwegs war, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, angegriffen oder Teil einer Schlägerei zu werden.“ Darauf kann er sich heute nicht mehr verlassen, sagt Jörg Nießen, Feuerwehrmann und Rettungssanitäter.
Gewalt, Dummheit und Unverschämtheit gehören zu den täglichen Feinden des Lebensretters aus Erkelenz, der schon 25 Jahre auf den Straßen von Köln Gutes tut. Der 46-Jährige ist über den Zivildienst „ins Blaulichtmilieu abgerutscht“ – und schüttelt seitdem häufig den Kopf.
Das letzte Mal, als er eine Mülltüte aus einem Baum am Weiher retten musste. „Denn eine Anwohnerin war im festen Glauben, dass sich anstelle der Tüte ein Reiher in den Ästen verfangen hatte und dringend von der Feuerwehr gerettet werden musste.“ So pochte die Anwohnerin vor Ort darauf, die Tüte vom Baum holen zu lassen, bis sie sich davon überzeugen konnte, dass es sich nicht um einen verletzten Vogel handle.
Kollege Hein ist in jedem Kapitel dabei
Jörg Nießen hat die Geschichte unter der Überschrift „Der Reiher am Weiher“ niedergeschrieben und in seinem neuen Buch veröffentlicht. Unter dem Titel „Jackie hat Hirn erbrochen – bleibt die jetzt doof?“ fasst er im Buch Geschichten aus seinem Alltag als Feuerwehrmann und Rettungssanitäter zusammen.
Beim Titel handelt es sich um einen O-Ton aus einer Partynacht, in der zwei Schwestern über den Durst getrunken haben und sich eine der beiden übergeben muss. Die trunkene Begleiterin glaubt, dass das Erbrochene ihrer Schwester Hirn sei. Wegen des Persönlichkeitsschutzes sind Orte und Namen der Protagonistinnen und Protagonisten in jeder seiner Geschichten frei erfunden.
In jedem Kapitel dabei: Sein fiktiver Kollege Hein, der von allen sehr geschätzt wird, auch wenn er mal grob sein kann. „Er ist eine Melange aus etwa 30 Kollegen, die ich im Laufe der Jahrzehnte kennengelernt habe“, sagt Jörg Nießen.
Beschimpfungen und Angriffe auf Beamte nehmen zu
Neben den schrägen, teils belustigenden Einsatzgeschichten thematisiert der Autor ein stetig wachsendes Problem: Beschimpfungen und Angriffe auf Beamte und Hilfskräfte. „Es fängt damit an, dass wir im Straßenverkehr beschimpft werden, wenn wir eine Straße zuparken, weil wir bei einem Herzinfarkt-Notruf keine Parklücke mehr suchen können“, erzählt Jörg Nießen. Oft fehle es Anwohnern oder Passanten dahingehend an Mitgefühl und Weitsicht: „Es kann schließlich jeden treffen.“
Körperliche Angriffe erlebt Jörg Nießen zum Glück selten, „aber die gibt’s auch“, betont der Feuerwehrmann. „Es gibt Menschen, die fühlen sich von allem, was Uniform trägt, eingeschränkt und kontrolliert. Das fängt schon damit an, wenn wir bei einem Unfall ein Flatterband hochziehen, an dem die Leute nicht mehr vorbeikommen.“ Manchmal würden Gaffer zusätzlich noch das Handy zücken, um die Unfallvideos anschließend in den sozialen Netzwerken hochzuladen. „Ich erlebe einen sinkenden Respekt gegenüber Hilfskräften.“
Rettung wird durch Störer verzögert
In solchen Momenten versucht Jörg Nießen, professionell zu bleiben und sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Diese werde nämlich durch Störungen von außen verzögert. Und das sei gerade bei Einsätzen, bei denen es um Leben und Tod gehe, höchst gefährlich.
Hier und da zweifelt der Retter deshalb an der Gesellschaft. Grundsätzlich an das Gute im Menschen zu glauben, habe er sich abgewöhnt. „Wenn ich heute zu einem Einsatz nach Düsseldorf oder Köln gerufen werde, fahre ich mit zwei wachsamen Augen hin, während früher eins gereicht hat.“
Anzahl der Rettungseinsätze steigt jährlich
Allgemein, beobachtet Jörg Nießen, habe sich im Laufe seiner beruflichen Laufbahn einiges verändert. So werde ein Feuerwehr- oder Rettungswagen häufiger und mit einer anderen Leichtigkeit gerufen, als es am Anfang seiner Karriere noch der Fall war. „Wir erleben jedes Jahr steigende Einsätze.“ Das Anspruchsdenken auf einen Krankenwagen oder einen Feuerwehreinsatz sei ein anderes geworden.
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Der Retter hat dafür ein Beispiel: „Wenn ich mir als Jugendlicher beim Fußball die Bänder gedehnt habe, dann hat der Trainer meine Mutter angerufen, die mich ins Krankenhaus gebracht hat. Heute wird sofort der Rettungswagen gerufen. Und auch wenn der Anteil gering ist, gibt es dennoch Menschen, die mir dann ins Gesicht sagen: Ich hab den Krankenwagen gerufen, um mir Taxikosten zu sparen und in der Ambulanz schneller dran zu kommen.“
Einmal sei es vorgekommen, erinnert sich Jörg Nießen, dass Senioren mit Drogen experimentierten und ihn und seine Kollegen von der Nachtwache zu sich nach Hause bestellten. Ein anderes Mal habe jemand Rauch auf einem Foto auf Google-Maps entdeckt und vorsichtshalber die Feuerwehr informiert. „Am Ende stellte sich dann raus, dass der angezeigte Rauch das Grillfeuer eines Nachbarn im Jahr 2017 gewesen ist.“
Viele Einsätze stellen sich später als Fehlalarm raus
Neben den vielen Einsätzen, die sich später als nicht notwendig herausstellten, ist es Jörg Nießen dennoch wichtig zu betonen, die Rettungskräfte lieber einmal zu viel als einmal zu wenig zu rufen. „Man sollte sich aber vor jedem Anruf darüber im Klaren sein, dass man damit Ressourcen in Anspruch nimmt, die andernorts Leben retten können. Deshalb: Vor dem Anruf überlegen, ob man sich vielleicht nicht doch selbst helfen kann.“ So kümmere er sich lieber um einen akuten Schlaganfall, der zeitnahe Behandlung erfordert, als einem uneinsichtigen, älteren Herren vor Ort zu erklären, dass das Batteriewechseln seines Rauchmelders nicht in den Aufgabenbereich der Feuerwehr falle.
Um Menschen wieder mehr für die Arbeit von Rettungskräften zu sensibilisieren, so glaubt Jörg Nießen, könne ein Freiwilliges Soziales Jahr oder ein Bundesfreiwilligendienst eine Chance bieten. „Wenn jeder einen solchen Dienst machen würde, bekommen die Menschen vielleicht eine andere Empathie gegenüber der Gesellschaft.“
Spaß an der Arbeit überwiegt
Neben vielen Momenten des Kopfschüttelns, fährt der Feuer- und Rettungssanitäter trotzdem noch jeden Tag mit Freude zur Arbeit. Denn das Gefühl, Menschen helfen zu können sei sehr wertvoll.
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Dafür erfahre er von vielen Seiten große Dankbarkeit. „Zum Beispiel durfte ich dabei sein, wie ein Kind im Rettungswagen zur Welt gekommen ist“, erzählt Jörg Nießen mit weicher Stimme. „Es war eine chaotische und ungeplante Situation, aus der wir alle am Ende mit einem Glücksgefühl gegangen sind.“
Ob er im nächsten Leben wieder retten will? „Nein, da probiere ich etwas anderes“, sagt Jörg Nießen mit einem Augenzwinkern. „Ich bin begeisterter Hobbytaucher, das würde ich gerne professionell machen. Schönes Wetter, klares Wasser, bunte Fische – aber bitte nur die Großen, alles andere langweilt mich.“