Hagen. Die Deutschen verbringen knapp ein Drittel ihrer Lebenszeit online - so viel wie im Bett. Ist das gesund? Wie lösen wir uns von der On-Leine?

Mit 25 Jahren Lebenszeit kann man schon eine ganze Menge anfangen. Etwa geboren werden, zur Schule gehen, erwachsen werden und ein Hochschulstudium beenden. Man kann die Liebe seines Lebens heiraten und mit ihr bis zur Silberhochzeit eine ziemlich gute Zeit verbringen. Man kann eine Pyramide bauen, eine Buche pflanzen und wieder fällen oder zum Neptun fliegen und wieder zurück.

Oder man kann schlafen.

Der Mensch verbringt fast 25 Jahre seines Lebens mit Schlafen. Und schlimmer: Weitere 25 Jahre seines Lebens verbringt er im Internet, wie eine Umfrage des Dienstleisters für Netzsicherheit Nord VPN ergab… Ehe Sie jetzt einwenden: Sooo viel Zeit hätten Sie auch noch nicht im Netz verbracht, sollten sie bedenken: Bis heute hat noch niemand so viel Zeit im Netz verbracht.

Boris Becker früher: „Bin ich schon drin?“ - Wir heute: „Wie komme ich wieder raus?“

1996 – vor 25 Jahren also – hatten nur wenige Deutsche einen Internetzugang, man arbeitete mit dem hochmodernen „Windows 95“ und ließ schrill das Modem fiepen, wenn man dank der AOL-Gratis-Disketten oder -CDs endlich einfach ins Netz kam. Boris Becker fragte sogar erst drei Jahre später: „Bin ich schon drin?“ Und heute fragt man eher: „Wie komme ich da wieder raus?“

Von der Schule bis ins Rentenalter: Das Handy scheint oft mit der Hand verwachsen zu sein. Bei denen, die jetzt mit dem Handy aufwachsen, wird die Nutzung noch stark zunehmen.
Von der Schule bis ins Rentenalter: Das Handy scheint oft mit der Hand verwachsen zu sein. Bei denen, die jetzt mit dem Handy aufwachsen, wird die Nutzung noch stark zunehmen. © Getty Images/iStockphoto | HalfPoint

Aber auf die Lebenszeit hochgerechnet kann die Zahl schon stimmen. Schlimmer noch: „Ich würde sogar einen Schritt weiter gehen, weil es sich um eine Hochrechnung nach aktuellem Stand handelt. Ich weiß nicht, inwieweit dabei eingerechnet wurde, dass diese Zahl über die nächsten 25 Jahre mit Sicherheit noch steigen wird. So waren etwa in den frühen 2000er-Jahren zwar Chaträume schon ein Thema, aber das ganze Mitmach-Web gab es da noch gar nicht“, sagt Phillip Ozimek (30), Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Sozialpsychologe, der an der Fernuniversität Hagen forscht und lehrt. Da die Umfrage eine Altersgruppe von 18 bis 74 Jahren umfasste, sieht er beim Blick in die Zukunft steigende Online-Zeiten: „Wer heute jung ist, wird mit dem Netz anders groß als die Generation davor. Insofern kann man erwarten, dass noch viel, viel mehr Lebenszeit damit zugebracht wird.“

Von morgens bis abends ständig online

Wenn man es auf einen durchschnittlichen Tag umrechnet: „Im Durchschnitt beginnen die Deutschen jeden Tag um 9.14 Uhr mit dem Surfen im Netz und melden sich erst um 21.24 Uhr wieder ab“, so steht es in der Umfrage. Auf diese Weise kommen pro Woche 51 Online-Stunden zusammen. Immerhin besteht ein Teil dieser Zeit aus dem, womit wir uns ohnehin beschäftigen: Arbeit. Sie macht 39,2 Prozent unseres Netzlebens aus.

Facebook, Instagram und die FoMO, die „Fear of Missing Out“

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Von Marc Oliver Hänig, Georg Howahl, Maren Schürmann

Und welche Online-Aktivitäten dominieren unsere Freizeit? Streaming von TV-Sendungen / Filmen: 5 Stunden 19 Minuten pro Woche; YouTube & Co.: 4 Stunden 9 Minuten; Soziale Medien: 4 Stunden 12 Minuten. Ehe man fortfährt, lohnt sich ein Seitenblick auf die aktuellen Entwicklungen beim Entertainment: „Gerade bei Streaming und Sozialen Medien kann man gar nicht mehr so klar trennen, weil diese Dinge miteinander verwoben werden. Was Netflix & Co. immer mehr anbieten: Dass man auch Social Streaming machen kann, also gemeinsam einen Film anfangen, so dass man sich darüber austauschen kann. Das ist natürlich auch der Corona-Zeit und dem Lockdown entsprungen, aber es steigert noch einmal die ,Fear Of Missing Out‘, die Furcht, etwas zu verpassen“, sagt Phillip Ozimek. Früher ging es darum, dass man bestimmte Serien wie „Haus des Geldes“ bei Netflix gesehen haben musste, um mitreden zu können. Jetzt ist ein zeitlicher Zusammenhang hinzugekommen, auch durch Live-Events bei YouTube oder Twitch.

Durch die Corona-Zeit ein gewaltiger Schub beim Online-Shopping

Sozialpsychologe Phillip Ozimek lehrt und forscht heute an der Fernuniversität Hagen.
Sozialpsychologe Phillip Ozimek lehrt und forscht heute an der Fernuniversität Hagen. © Ozimek | Ozimek

Ozimek fürchtet, dass durch die Nutzung von Sozialen Medien in der Schule und später im Studium die Abhängigkeit vom Netz erhöht werde – und sei es nur durch die WhatsApp-Gruppe zur Organisation des Unterrichts. Es gibt im Vergleich zu früher auch viele Vorteile durch diese Art des Austauschs, aber gleichzeitig hängt man immer mehr im Netz – und vergleicht sich in den Sozialen Medien auch ständig mit anderen. Was den Druck auf jeden Einzelnen erhöht.

Darüber hinaus berichtet die Umfrage, dass die Deutschen im Schnitt 2 Stunden und 32 Minuten pro Woche mit Online-Shopping verbringen – ein Segment, das eine gewaltige Steigerung im Corona-Jahr 2020 erfahren hat. Der Online-Umsatz beim Shopping belief sich laut Handelsverband Deutschland (HDE) in Deutschland im Jahr 2020 auf 72,8 Milliarden Euro. Im Vorjahr lag er noch bei 59,2 Milliarden – eine Steigerung von knapp 23 Prozent. Und abgesehen davon, dass man seine Pizza, Burger und Frühlingsröllchen längst per Internet bestellt, gesellen sich nun verstärkt auch normale Supermarkt-Einkäufe hinzu.

Digital Detox als Wellness-Angebot

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Althergebrachte Freizeitaktivitäten haben heute ebenfalls eine Anbindung ans Netz. Musikhören? Wo man früher eine CD einschob, streamt man heute (3 Stunden 35 Minuten pro Woche), manche Telefonanrufe wandern als Videoanruf ins Netz (1 Stunde 30 Minuten).

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Viele haben sogar vergessen, wie sie ihr Handy oder Tablet abschalten können. Ozimek: „Allein der Begriff ,Digital Detox‘ beschreibt ja etwas, das vor 15 Jahren noch vollkommen normal war, also die Abstinenz von digitalen Medien in bestimmten Zeiten. Und das gehört heute schon in den Bereich von Spa und Wellness: Sowas macht man, wenn man irgendwie runterkommen will.“ Man sollte es schon tun, um sich von der On-Leine zu lösen.

Behörden und Schulen müssen noch etwas nachsitzen

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Dennoch gibt es Bereiche, in denen eine zunehmende Digitalisierung wünschenswert wäre. So hinkt die Bürokratie noch immer eklatant hinterher, wenn es um die Online-Abwicklung von Behördengängen geht. Viele Auslandsdeutsche können etwa im September bei der Bundestagswahl nicht mitwählen, weil die Post in Coronazeiten zu lange unterwegs ist – und Online-Abwicklung nicht vorgesehen ist.

Auch in der digitalen Lehre sind längst nicht alle so weit, wie es sich der Psychologe von der Fernuni Hagen wünscht. Digitale Bildungsangebote haben in der Corona-Zeit immens zugenommen. Aber etwa beim Homeschooling ist es meist schwierig, denn oft organisiere jeder Lehrer die Lehre und Betreuung seiner Schüler unterschiedlich: „So kommt für Schülerinnen und Schüler keine Routine zustande.“

Was bleibt, ist die Bequemlichkeit

Wird man, wenn die Zeiten wieder normaler sind, einen Rückgang der Online-Aktivitäten feststellen? Ozimek: „Ich fürchte, die Bequemlichkeit bleibt uns erhalten.“

Bereiten wir uns also lieber vor auf die Online-Zeiten, die uns erwarten. Und planen wir vorsichtshalber ein paar Offline-Stunden ein. Sie werden die Ausnahme sein.