Essen. In einer sehr persönlichen Betrachtung schildert Alexander Marinos, welche Herausforderung Corona im Hinblick auf das Fest der Feste darstellt.

In acht Wochen ist Weihnachten. Unter normalen Umständen würde der zweite Satz nun lauten: Und ich habe noch keine Geschenke. Aber – wir haben keine normalen Umstände. Also lautet der zweite Satz: Und ich habe keine Ahnung, wie wir das Fest der Feste angesichts der explodierenden Infektionszahlen mit meinen Schwiegereltern begehen wollen.

Wir, das sind meine Frau und unsere beiden Kinder, 4 und 7 Jahre alt. Meine Schwiegereltern sind um die 80. Oma hat einen Herzschrittmacher, Opa ist für sein Alter topfit. Formal gehören selbstverständlich beide zur Risikogruppe, die sich das Virus lieber nicht einfangen sollte. Unsere Kinder könnten es jeden Tag aus Schule oder Kita mit nach Hause gebracht haben.

Höhepunkt unserer permanenten Überforderung

Das Virus also. Und Weihnachten. Diese Kombination stellt den vorläufigen Höhepunkt unserer permanenten Überforderung dar. Wie viele Weihnachtsfeste werden wir noch gemeinsam feiern können? Ein Verzicht würde allen das Herz brechen. Kann man das Risiko nicht so weit senken, dass ein gemeinsames Feiern doch irgendwie verantwortbar ist? Vielleicht draußen, im Garten?

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Der Diplom-Journalist und Medienwissenschaftler Dr. Alexander Marinos (48, verheiratet, zwei Kinder) ist stellvertretender Chefredakteur.
Der Diplom-Journalist und Medienwissenschaftler Dr. Alexander Marinos (48, verheiratet, zwei Kinder) ist stellvertretender Chefredakteur. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Wir sitzen auf unserem Sofa und googeln nach schnell aufbaubaren Klappzelten und, ja, nach Heizpilzen. Im Garten bei frischer Luft gäbe es weniger Aerosole. Im Grunde fasse ich es nicht, dass wir diese Klimakiller ernsthaft ins Auge fassen. Wir schalten den Fernseher an. Gerade läuft der Wetterbericht. Der Meteorologe beginnt mit dem Hinweis, noch nie habe es so wenig Eis am Nordpol gegeben wie in diesem Jahr. Thema erledigt.

Vor einigen Tagen waren Oma und Opa zu Besuch. Als erst der Kaffee und dann auch die Füße auf der Terrasse empfindlich abkühlten, wagten wir das Experiment: Alle bekamen einen Mund-Nasen-Schutz verpasst, auch die Kinder, und wir gingen ins Haus bei geöffnetem Fenster. Als meine Frau mit Kuchen kam, der irgendwie nicht durch die FFP-2-Masken passen wollte, mussten wir alle sehr lachen – bis mir wieder einfiel, dass Lachen ja besonders viele Aerosole fabriziert.

Keiner kommt daran vorbei, Abwägungen zu treffen. Das Virus ist Teil der allgemeinen Lebensrisiken geworden. Autofahren kann auch tödlich sein, und doch steigen fast alle von uns regelmäßig ins Auto. Die Vernünftigen halten sich allerdings an Geschwindigkeitsbegrenzungen, die Raser nicht. Sie gefährden sich und andere.

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Diese Rasermentalität gibt es auch übertragen auf die Coronakrise. Schon im Sommer, als wir alles im Griff zu haben schienen, wunderte ich mich über die vielen Partys am Wochenende um uns herum. Schon damals dachte ich, das Virus feiert kräftig mit, und ärgerte mich über die um sich greifende Sorglosigkeit. Unser Gefühl sagt uns, dass von Menschen, die uns nahestehen, keine Gefahr ausgeht. Denkt man drüber nach, wird aber schnell klar, dass das natürlich ein Trugschluss ist. Das Virus nutzt Nähe und kennt weder Freund noch Feind.

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Warum Ninchen Blumenkranz nur noch nervt

Überhaupt ist „Nachdenken“ etwas Gutes. Nur im Supermarkt, vor dem Süßigkeitenregal beispielsweise, da setzt das Denken gerne einmal aus. Oder warum hat der Mann in dem engen Gang mit den Weingummis neulich seine Maske unters Kinn rutschen lassen, um dann – offenbar überfordert von der Auswahl – laut schnaubend das Angebot zu studieren? Meist bedeutet die Freiheit der einen die Unfreiheit der anderen: Ich machte kehrt und ging noch mal zum einsamen Obststand. Ob sich meine Kinder über eine Extraportion Äpfel genauso gefreut haben wie über eine Tüte Gummibärchen? Sie kennen die Antwort.

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Wie wäre es aber mit dieser Frage: Wenn man ein Weizenkorn auf das erste Feld eines Schachbretts legt, auf das zweite dann das Doppelte, also zwei Körner, auf das dritte wieder das Doppelte, also vier, und so weiter – wie viele Körner würden am Ende insgesamt auf dem Schachbrett liegen? Es geht, Sie haben es sofort erkannt, um exponentielles Wachstum. Genau das erleben wir gerade beim Corona-Virus. Eine zunächst flache Kurve wird allmählich steiler, um dann fast senkrecht nach oben zu schießen. Viele Menschen, auch gut gebildete, können sich dieses Wachstum anfangs schlecht vorstellen.

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Alles blicket stumm auf dem leeren Tisch herum: Weihnachten, das Fest der Liebe, ohne seine Liebsten? Corona ist echt ein Arschloch! © Getty ImagesAbo | Nikada

„In unserem Krankenhaus liegen doch nur zwei Menschen auf der Intensivstation“, habe ich vor zwei Wochen in einem Facebook-Kommentar gelesen. Am nächsten Tag waren es vier. „Kein Problem“, postete prompt dieselbe Person. „Es sind doch noch so viele Betten frei.“ Ich habe ihr dann die Antwort auf die Schachbrettfrage gesendet: 18.446.744.073.709.551.615. Also rund 18,45 Trillionen Weizenkörner.

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Was hilft, sind Argumente und Geduld. Doch es fällt nicht immer leicht. „Corona ist wie Grippe“, schreibt gerade wieder „Ninchen Blumenkranz“ in meiner örtlichen Facebook-Gruppe. Augenblicklich tobt in mir die Frage, ob das Lesen solcher Posts für meine Gesundheit noch abträglicher sein könnte als das Virus selbst. Ich schreibe wuchtig zurück: „Blödchen Blumenkranz!!!“ Ich lösche die Antwort und versuche es etwas diplomatischer: „Wenn alle vorher nur halb so viel lesen würden wie sie anschließend schreiben.“ Ich lösche auch diese Antwort wieder.

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Manche glauben an Corona erst, wenn es jemanden im Umfeld trifft. Der bekannte Betreiber einer PR-Agentur in Essen schildert auf Facebook seine Begegnung mit dem Virus: Für gewöhnlich sei er ein „unverbesserlicher Optimist“, schreibt er. „Hinter mir liegen die, gesundheitlich gesehen, härtesten zehn Tage meines Lebens.“ „Die ersten fünf Tage und Nächte zuhause mit über 40 Grad Fieber im Schnitt waren schon ein echter Höllenritt.“ „Dann kam die Luftnot.“ „Pure Panik bis blanke Angst.“ Am Ende überlebt er die Infektion. Ich danke ihm für den Beitrag und teile ihn. Tausende lesen es. Ninchen Blumenkranz ist nicht dabei.

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In acht Wochen ist Weihnachten. Ich werde Ninchen ein frohes Fest wünschen. Aber wichtiger ist: Oma und Opa werden bei uns sein. So oder so.