Bochum. Abstand aus Anstand? Nach Corona werden wir anders miteinander umgehen, ist sich der Bochumer Sozialpsychologe Prof. Dr. Wilhelm Hofmann sicher.
Schon wieder ein Vollpfosten, der samt Einkaufswagen mittig durch die Gänge des Discounters pflügt, zielstrebig auf dem Weg zum Mehl-Regal. Keine Chance für den Gegenverkehr, irgendwie auszuweichen. Oder der Familienclan, der im Park die volle Breite des Wegs einnimmt. Wer jetzt das oberste Corona-Gebot einhalten will, nämlich 1,5 Meter Mindestabstand zu halten, muss auf den Rasen oder in die Büsche flüchten. Das sind Ausnahmen, zum Glück.
„Wir müssen deshalb gut aufeinander achten“
Die große Mehrheit hält sich an die Regeln, rückt anderen nicht auf die Pelle. Fragt sich trotzdem mit bangem Herzen, wie Corona unser gesellschaftliches Leben und die Wirtschaft verändern wird. Und wie unsere physischen, sozialen Kontakte aussehen, wenn das Virus endlich besiegt ist. Werden wir dann noch Verwandte und Freunde umarmen, mit Küsschen links und rechts? Werden wir weiterhin anderen die Hand schütteln, zu Großveranstaltungen gehen?
„Wir erleben gerade ein kritisches Lebensereignis im Kollektiv“, sagt dazu Sozialpsychologe Prof. Dr. Wilhelm Hofmann von der Ruhruniversität Bochum: „Jeder von uns hat ein Bedürfnis nach Anschluss, nach sozialen Kontakten. Dem gegenüber steht eine Zeit des sozialen Verzichts, der vielen zu schaffen macht“. Diese „soziale Deprivation“, also das Ausbleiben von Begegnungen, Reizen und den damit verbundenen Impulsen, könne auch in „negative Schleifen“ führen, zum Beispiel zu starken Einsamkeitsgefühlen oder Alkoholmissbrauch. „Nicht selten bilden sie gar das Eintrittstor zu einer Depression“, so der Wissenschaftler. „Wir müssen deshalb gut aufeinander achten“, lautet seine Empfehlung.
Enger Kontakt ist plötzlich schlecht
Was aber machen die amtlich verordneten Abstandsregeln mit uns? Wilhelm Hofmann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Umwertung“: „Das Normale ist nicht mehr normal. Enger Kontakt gilt auf einmal als etwas Schlechtes, Distanz als etwas Gutes. Wir sind eben formbare Wesen“. Ein gutes Beispiel sei – neben der besseren Handhygiene – die Verweigerung des Händedrucks. Viele Menschen reagierten darauf normaler Weise mit Unverständnis und fühlen sich beleidigt. Dass es – auch ohne Corona – für alle gesünder sei, sich bei der Begrüßung zuzunicken, in die Augen zu schauen und kurz zuzuwinken sei eine Erkenntnis, die sich mehr und mehr durchsetze. Sobald eine kritische Masse, sprich ein Schwellenwert erreicht sei, verliere ein solches Vermeidungsverhalten an Schärfe und die Gesellschaft passe ihr Verhalten den neuen Regeln an, so der Wissenschaftler: „Die Normen verändern sich.“
Lächelt der Mensch hinter der Maske? Oder verzieht er angewidert den Mund? Es darf gerätselt werden. Die heißbegehrten Gesichtsmasken tragen zum Schutz der anderen vor Ansteckung bei, doch die „Eindrucksbildung“, wie Hofmann es nennt, wird wegen der fehlenden „Hinweisreize“ erschwert: „Wir Menschen nutzen auch viele nonverbale Signale wie die Gesichtsmimik, um uns einen Eindruck vom Gegenüber zu machen und das Gesagte richtig zu interpretieren. Die Masken erschweren das und könnten leichter zu Missverständnissen führen.“
Künftiger mehr digitale Meetings
Generell sieht der Sozialpsychologe auch Chancen durch die Corona-Krise. Zum Beispiel in der Wirtschaft, die künftig verstärkt auf digitale Meetings setzen werde, statt Manager unnötigerweise rund um den Erdball fliegen zu lassen. Auch der Lehrbetrieb an Schulen und Unis werde nachhaltig digitaler. Bemerkenswert für ihn ist der momentane Zusammenhalt der Gesellschaft: „Fast alle machen mit bei der Bekämpfung dieser großen Bedrohung“. „Die Notwendigkeit, Abstand zu halten, schafft auch neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und Verbundenheit “, nennt Wilhelm Hofmann ein weiteres Phänomen, das Corona mit sich bringt: „Wer zum Beispiel für Ältere einkauft oder auf andere Weise hilft, gibt ihnen Zuwendung und erhält gleichzeitig ihr Vertrauen“. Und es stärkt das menschliche Bedürfnis, in etwas eingebunden zu sein, einer Gruppe anzugehören.“
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Das tägliche Rennen im Hamsterrad
Führt die Krise zur verstärkten Selbstreflexion, zum Nachdenken darüber, ob das tägliche Rennen in Hamsterrad und die verbreitete „Geiz ist geil“-Mentalität ins Leere führen? Der Sozialpsychologe wagt in dieser Frage keine Voraussage. „Vielleicht“, so seine leise Hoffnung, „erleben wir nach der Krise, dass viele Menschen ihren Konsum nachhaltiger, maßvoller gestalten, mit weniger zufrieden sind und Dinge im Leben, die man für selbstverständlich hielt, mehr wertschätzen“. Vielleicht passiert aber auch das genaue Gegenteil. „Natürlich müssen wir erst einmal die Corona-Krise so gut es geht bewältigen. Sie birgt aber auch die Chance zu einer Art Generalinventur und Neugestaltung für die Zeit danach. Nicht nur bei uns selbst, sondern auch für unsere Gesellschaft als Ganzes.“
Ein wenig mehr Luft zum Atmen
Dass wir alle, nicht nur Wissenschaftler, Politiker und Experten vieler Fachbereiche, aus der Corona-Krise lernen können, ist unstrittig. Das gesellschaftliche Leben wird sich in der Nach-Corona-Zeit ändern. Und das kann durchaus angenehm und positiv sein.
Ein paar Beispiele:
Das ewige Händeschütteln bei der Begrüßung oder einem Vertragsabschluss wird zum Tabu. Gut so, denn vielen Menschen ist es längst lästig und äußerst unangenehm. Der zu feste oder zu lasche Händedruck ist noch das geringste Problem. Doch wann wurde diese ausgestreckte Hand zum letzten Mal gewaschen? Was hat sie zuletzt angefasst? Steckte vielleicht ein Finger der Hand im Nasenloch, pulte er etwas zwischen den Zähnen hervor? Das Ausschlagen eines Händedrucks wird heute als Missachtung oder Arroganz verurteilt. Das Virus wird damit aufräumen. Wir werden eine neue Form der Begrüßung finden.
„Diskretion, bitte“ steht schon lange auf kleinen Tafeln vor Bank- und Postschaltern. Daran halten sich die meisten Menschen und wahren Abstand. Sie tun es aber nicht, wenn dieser Hinweis fehlt. Die Bitte um Abstand sollte künftig nirgendwo mehr geschrieben stehen, sondern einfach in unseren Köpfen sein.
Was geht es uns an, wie viel Geld der Vordermann abhebt oder einzahlt? Was geht es uns an, welchen Brief er verschickt, welches Einschreiben er erhält? Nichts! Und schließlich möchten wir ja auch nicht, dass der Hintermann erfährt, welche Angelegenheit wir regeln wollen, welche Auskunft wir brauchen.
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Ein nettes Dankeschön an der Kasse
Derzeit haften in jedem Supermarkt vor den Kassen Klebestreifen auf dem Boden und signalisieren: bis dahin und nicht weiter. Das funktioniert. Das sollte auch immer so bleiben. Jeder Kunde kann in Ruhe seine Waren auf das Kassenband legen, einpacken und bezahlen. Die Gefahr, den Einkaufswagen des Hintermannes in die Fersen gedonnert zu bekommen, ist Geschichte.
Beim wöchentlichen Einkauf wie ein Akkordarbeiter agieren zu müssen, weil der nächste Kunde unangenehm auf die Pelle rückt ... vorbei. Entspannt einkaufen, ein nettes Dankeschön an die Kassiererin. Nicht nur im Supermarkt, sondern auch auf dem Wochenmarkt, im Buchladen, an der Tankstelle, einfach überall ein gutes Gefühl haben.
Gibt es Unangenehmeres als rappelvolle Wartezimmer in Arztpraxen und Sprechstundenhilfen, die am Empfang für jedermann vernehmbar nach dem Grund der Konsultation fragen? In der Corona-Krise undenkbar.
Und danach? Die aktuell gängige Praxis der strengen Terminvergabe mit dem Hinweis nur zehn Minuten früher zu erscheinen, sollte beibehalten werden. Das entspannt Patienten und Praxisteam. Und wer wegen eines entzündeten Fingers zum Arzt geht, muss nicht fürchten, sich auch noch mit Erkältungsviren zu infizieren.
Es gibt viele weitere gute Beispiele, die jetzt das Leben bei allen Einschränkungen auch ein bisschen angenehmer machen. Es ergibt Sinn, nach dem Shutdown die positiven Dinge nicht leichtfertig zu verspielen. Ein wenig mehr Luft zum Atmen tut uns allen gut.
Das ABC des Anstandes
Abstand halten, Distanz wahren – das sollte selbstverständlich sein. Jeder Mensch hat schließlich seinen individuellen Gebietsanspruch. Und der bedeutet nichts anderes als: „Rück mir nicht zu nahe, lass mir meinen Freiraum.“
Der US-Amerikaner Edward T. Hall hat schon 1963 die menschlichen Distanzzonen vermessen und festgelegt, die Ergebnisse sind heute brennend aktuell.
Neutral fühlen wir uns in der öffentlichen Zone von etwa 3,60 Metern, etwa als Zuschauer eines Geschehens. Sensorische Signale wie Geruch oder leise gesprochene Worte nehmen wir aus dieser Entfernung nicht wahr und fühlen uns sicher.
Die sogenannte soziale Zone liegt zwischen 1,20 und 3,60 Metern. Es ist die klassische Distanz zu Fremden, zum Beispiel auf dem Bahnsteig. Wird sie eingehalten, fühlt sich niemand belästigt. Dies ist jedoch der Fall, wenn die gefühlte Armlängen-Distanz nicht eingehalten wird, was einem Eindringen in die persönliche Zone oder Privatsphäre gleichkommt. In dieser Distanzzone, die Hall mit 1 bis 0,60 Meter definiert, finden Unterhaltungen oder Verkaufsgespräche statt. Wer nicht dazugehört, sollte sich langsam annähern, um Irritationen zu vermeiden.
Die intime Zone beginnt bei 60 Zentimetern und ist Verwandten und Freunden vorbehalten. Kommen Fremde so nah, empfinden wir dies als aufdringlich.
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