Essen. Jugendforscher Klaus Hurrelmann warnt vor Folgen der Corona-Krise für Jugendliche. Welche Wirkungen die Quarantäne hat und was Eltern tun können.

Die Schule ist ausgesetzt, Hobbys finden nicht statt und Treffen mit Freunden sind untersagt: Für Jugendliche bringt das Coronavirus einige erhebliche Veränderungen mit sich. Der Kinder- und Jugendforscher Klaus Hurrelmann erklärt im Interview mit Nikolina Miscevic wie die Corona-Krise Jugendliche belastet und sich auf ihre Entwicklung auswirkt.

Herr Professor Hurrelmann, würde Sie sagen, dass Jugendlich ganz besonders unter der Kontaktsperre und den übrigen Schutzmaßnahmen leiden?

Hurrelmann: Ja. Für Jugendliche sind das wahnsinnige Einschnitte. Sie leben vom Kontakt mit Gleichaltrigen.

Wieso ist der Kontakt zu Gleichaltrigen für Jugendliche besonders wichtig?

Heranwachsende profilieren sich über den Vergleich und den Austausch mit ihren Altersgenossen. Wenn das wegfällt, fehlt ihnen schlichtweg die Chance, sich selbst zu entfalten. Da spielt auch die Schule eine entscheidende Rolle.

Inwiefern?

Die Schule ist zum einen die Gegenwelt zur Familie, der allerwichtigste Kontaktpunkt zu den Freunden und Klassenkameraden. Dort können sich die Jugendlichen miteinander messen und in Wettbewerb treten, was in dieser Entwicklungsphase sehr bedeutend für sie sein kann. Zum anderen ist die Schule ein öffentlicher Raum, der den Jugendlichen Schutz bietet.

Schutz wovor?

Nicht in allen Elternhäusern geht es Jugendlichen gut. Viele leiden unter der Kontrolle der Eltern und einer Einengung zu Hause. Sie brauchen aber viel Freiraum und Experimentiermöglichkeiten. Über Wochen hinweg dicht zusammenzuleben und praktisch keine Geheimnisse haben zu können, das ist für viele unerträglich. Deshalb sollten Eltern darauf achten, ihnen so viel Spielraum wie möglich zugeben.

Wie gelingt das?

In kleinen Wohnungen kann das schwierig werden. Eltern sollten mit ihren Kindern einen festen Tagesrhythmus vereinbaren und ihnen am Tag mindestens drei Stunden nur für sich garantieren. Damit sie allein sein können. Das brauchen sie einfach. Wenn eine räumliche Trennung nicht möglich ist, kann man zum Beispiel auch einfach eine Decke im Raum aufhängen, um Privatsphären abzugrenzen.

Kann diese Distanz nicht auch kontraproduktiv sein?

Zu viel Distanz und Zeit für sich allein sind natürlich auch nicht ideal. Zum festen Tagesablauf sollten deshalb auch gemeinsame Rituale und Mahlzeiten gehören, und regelmäßig können dann auch alle Familienmitglieder zum Beispiel zu einem Spiele- oder Filmabend zusammenkommen.

Welche Folgen kann denn die aktuelle Lage für die Entwicklung der Jugendlichen haben?

Eigentlich droht das, was vielen Angehörigen der jungen Generation ohnehin schon lange vorgeworfen wird: Dass sie schwach im persönlichen Umgang sind, dass sie Höflichkeitsregeln nicht beachten, rücksichtlos agieren und nicht mit menschlichen Konflikten umgehen können, weil sie in ihrer künstlichen medialen Welt von Instagram und TikTok versinken. Nach unseren Studien besteht diese Gefahr für etwa 20 Prozent der Jugendlichen. Bei ihnen können die Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen tatsächlich problematische Auswirkungen haben.

Nun gab es vor allem zu Beginn der Corona-Krise den Vorwurf, Jugendliche würden den Ernst der Lage nicht verstehen und sich trotzdem treffen. Was sagen Sie dazu?

Die Medien sprechen gerne von „der Jugend“, dabei ist es ein verschwindend geringer Teil von ein oder zwei Prozent, der sich rücksichtslos verhalten und demonstrativ Coronaparties veranstaltet hat. Ich finde es bemerkenswert, wie lässig die riesige Mehrheit der Jugendlichen die Restriktionen hinnimmt.

Woher kommt diese Gelassenheit?

Die Heranwachsenden sind digital sehr stark. Für sie ist es kein großes Thema, ihre Freunde zeitweise nur noch im Display zu sehen – solange es zeitlich absehbar bleibt. Hinzukommt, dass ein großer Teil der Jugendlichen, der sich politisch engagiert, auf Unerwartetes eingestellt ist. Sie wissen spätestens seit Fridays for Future, dass die Menschheit an den Grenzen ihrer Möglichkeiten lebt und fühlen sich nun in ihren Ansichten bestätigt, dass sich der Lebensstil ändern müsse.

Stärkt das die Zwietracht zwischen den Generationen?

Die politisch sensiblen jungen Leute kritisieren zwar die älteren Generationen für ihren rücksichtslosen Umgang mit den Umweltressourcen, aber sie suchen zugleich den Schulterschluss mit ihnen und setzen auf Solidarität zur Bewältigung der existenzbedrohenden Probleme. Das rechne ich ihnen hoch an.