Essen. Zuhören, wenn andere von ihren Ängsten erzählen. Das ist wichtig, damit sich alle verstanden fühlen, so die evangelische Theologin Marion Greve.

Auch die Kirche wird ausgebremst. Nicht nur, dass die Gläubigen in der Corona-Krise den Gottesdienst über die Bildschirme zu Hause schauen. Auch eine Veranstaltungsreihe der Protestanten kann nun nicht wie geplant in der Osterzeit beginnen – sie wurde auf Mai, Juni 2021 verschoben: „Zuhören in unerhörten Zeiten“ lautet der Titel. Maren Schürmann sprach mit der Initiatorin Marion Greve (55). Dabei macht die Superintendentin für den Kirchenkreis Essen deutlich, wie wichtig das richtige Zuhören ist – in diesen Zeiten mehr denn je.

Wie sind Sie auf die Idee für diese Reihe gekommen?

Marion Greve: In den Monaten vor Corona bin ich immer wieder Menschen begegnet, die erfahren haben, dass ihnen nicht zugehört wird. Ich habe mit alten Menschen gesprochen, mit Geflüchteten, Menschen mit geringem Einkommen, Arbeitslosen. Aber auch mit Menschen, die leidenschaftlich politisch engagiert sind. Entweder haben sie frustriert gesagt: ,Mir hört doch sowieso keiner zu.’ Oder: ,Na ja, ob mir jemand zuhört, was ich so denke?’ Das hat mich nachdenklich gemacht. Es sind alles Menschen, die erleben, dass ihnen und ihren Lebensentwürfen, aber auch ihren Ängsten, nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wird. In den Medien, in der Politik, in den Sportvereinen und – da fasse ich mir an die eigene Nase – in den Kirchengemeinden. Daher haben wir gesagt: Wir hören zu!

Hören können die meisten. Zuhören ist da schon etwas anderes.

Superintendentin Marion Greve: „Es geht um ein aktives Zuhören, in dem die Möglichkeit angelegt ist, dass sich etwas verändert, durch ein Gespräch.“
Superintendentin Marion Greve: „Es geht um ein aktives Zuhören, in dem die Möglichkeit angelegt ist, dass sich etwas verändert, durch ein Gespräch.“ © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Es geht um ein aktives Zuhören, in dem die Möglichkeit angelegt ist, dass sich etwas verändert durch ein Gespräch. Und das muss man wirklich einüben. Das fällt nicht vom Himmel. Das hat etwas damit zu tun, dass ich mich selbst reflektiere, dass ich nicht nur mich im Blick habe, sondern auch den anderen, dass ich mich einübe in Themen wie Empathie und Achtsamkeit.

Ich habe den Eindruck, es gibt viele Menschen, die reden unglaublich gerne von sich anstatt zuzuhören. . .

Für mich hat das Zuhören drei Ebenen. Das eine ist tatsächlich das Hören auf mich selbst, aber im guten Sinne, nicht im narzisstischen Sinne, sondern dass ich auf meine innere Stimme höre: Was stärkt mich? Die zweite Ebene ist das Hören auf andere, zuhören, wenn andere reden, weil es denen auch gut tut, die Sorgen zu teilen. Und das dritte ist das Hören auf Gott. Also im Gebet inne halten, vielleicht einen Bibelvers bedenken, still werden.

Es hat auch etwas mit wahrem Interesse zu tun.

Genau das ist das, was ich mit aktivem Zuhören meine, dass ich an der Person Interesse zeige. Ich als evangelische Christin mache meinem Gegenüber deutlich: Grundsätzlich bist du wertvoll und wichtig, unabhängig davon, was du mir erzählst. Also diese Grundhaltung, dass ich den anderen akzeptiere, dass da etwas im Gespräch mitschwingt, in Wort und Haltung, das finde ich ganz wichtig. Das zeigt sich auch in meinem Gesicht, in meiner Mimik. So ein Zuhören ist ja mehr als Schweigen.

Manchen Menschen möchte man gar nicht mehr zuhören...

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Das Zuhören fällt mal leichter, mal schwerer. Das liegt ja auch an den Menschen, die zusammenkommen, an Sympathie und Antipathie. Wenn man sich weiterbewegen will, kann man lernen, dass auch Resonanzräume entstehen können mit Menschen, die mir vielleicht nicht sympathisch sind. Ich nenne ein extremes Beispiel: Wir haben in Essen vor ein paar Wochen in der Steeler Kirche eine Bürgerdiskussion angeboten – mit den „Steeler Jungs“. Ich sehe deren Haltung wirklich kritisch, weil sie den demokratischen Grundwerten widerspricht. Trotzdem sind wir gefordert, ihnen zuzuhören. Nur so kann sich etwas verändern. Wobei das Zuhören natürlich auch Grenzen hat, wenn Menschenrechte immer wieder verletzt werden und sich im Gespräch kein Verständnis füreinander bilden kann, dann muss man auch mal ein Gespräch beenden. Vielleicht gibt es ja die Möglichkeit, zu einem späteren Zeitpunkt mit dem einen oder anderen, unter neuen Umständen, zusammenzukommen.

Wo sehen Sie zurzeit einen großen Bedarf des Zuhörens?

Corona mobilisiert die Ängste: Werde ich mich anstecken? Muss ich mir Sorgen um meine Existenz machen? Da ist das Zuhören sehr wichtig – und dass wir nicht polarisieren: Da sind die Jungen, da sind die Alten. Dass wir nicht auf andere zeigen: ,Guck mal, die gehen immer raus trotz Kontaktverbot.’ Die große Herausforderung ist, einander zu verstehen, und das geht nur, indem wir erstmal zuhören.

Was aber zurzeit nicht leicht ist, weil es kaum Begegnungen gibt.

Da wird das Telefon wieder total wichtig. Die älteren Leute haben noch nicht Social Media, WhatsApp, Mails. Die freuen sich, wenn unsere Seelsorger sie jetzt anrufen, zu denen sie sonst in Gesprächskreise gehen. Ich sage auch immer unseren Gemeindepfarrerinnen und -pfarrern: Ermutigt eure Gemeindemitglieder, dass sie sich untereinander anrufen und nachfragen: ,Brauchst du etwas?’ Und zuhören! ,Willst du mir erzählen, wie dein Tag heute war?’ Das wird jetzt noch viel mehr gebraucht als in Zeiten, wo alles stabil läuft.

Wie könnte unsere Gesellschaft aussehen, wenn wir alle das Zuhören ein bisschen mehr beherzigen würden?

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Manche Einsamkeit, manche Traurigkeit würde sich nicht weiterentwickeln, sondern im Kern ersticken. Wenn mir jemand gegenüber steht und der nimmt wahr, dass ich ihm zuhöre, dann kann er wieder eine Perspektive gewinnen, Hoffnung. Ich glaube, dass wir zu einer achtsamen Gesellschaft, zu einer friedlicheren Gesellschaft kommen könnten, wenn wir aufeinander hören. Um es politisch zu sagen: Es ist die Grundkompetenz für ein demokratisches Miteinander

Kirche in der Krise: „Ostern findet statt!“

In der Corina-Krise dürfen die Menschen nicht gemeinsam die Kirchen besuchen, damit sie sich nicht mit dem Virus anstecken. Und so laden viele Gemeinden zu einem Online-Gottesdienst ein. „Natürlich geht dadurch die persönliche Begegnung verloren“, sagt Superintendentin Marion Greve. „Aber wir lernen jetzt, wie wir als Kirche auch mit digitalen Medien unsere Botschaft weitergeben können. Bei den ersten Gottesdiensten, die wir auf YouTube eingestellt haben, gab es sofort 500, 600 Klicks, so viele Leute haben zugehört. Da kann man sich überlegen: Wie viele Menschen sitzen in einem klassischen Gottesdienst?“ Als Zusatzangebot werde die Kirche das auch für die Zukunft weiter ausbauen, so die evangelische Theologin: „Ich halte das für ganz wichtig.“

Symbole mit großer Wirkkraft

Und nun ist Ostern. Wie kann man in Zeiten der sozialen Distanz die Auferstehung Jesu Christi feiern? „Ostern findet statt!“, sagt Marion Greve lachend und bestimmt zugleich. „Wir haben ja in Essen um 19 Uhr das ökumenische Glockengeläut eingeführt und Menschen ermutigt: Stellt eine Kerze ins Fenster, haltet einen Moment inne, sprecht ein Gebet. Das ist bei den Menschen unglaublich gut angekommen: ,Da spüre ich, da sind noch andere.’ An Ostersonntag wollen wir von halb bis viertel vor zehn in allen Kirchen im ganzen Rheinland, auch in den Bistümern, fröhliches, lautes Glockengeläut erschallen lassen. Plötzlich bekommen Symbole, die sonst nur Ostern begleiten, eine solche Wirkkraft für die Menschen: ,Die Kirche ist da. Und auch Gott ist weiter für uns da!’“