Essen. Eine Lehrerin aus NRW berichtet, wie es sich anfühlt, wenn die Schule wegen der Corona-Krise ausfällt – nämlich überhaupt nicht klasse.

Am 16. März wurde der Unterrichtsbetrieb an Schulen in NRW erstmals flächendeckend eingestellt. Können digitale Medien den Schulalltag ersetzen? Jein. Das Pilotprojekt im Corona-Ausnahmezustand stellt Pädagogen, Schüler und Eltern vor Probleme, birgt aber auch Chancen.

„Die Rückmeldungen sind positiv. Die Schulen haben den Auftrag, sinnvolle Lernangebote zu entwickeln, sehr gut angenommen. Dabei wird sowohl die technische Ausstattung der Schulen berücksichtigt als auch der Lernstand der Schülerinnen und Schüler“, heißt es aus dem NRW-Schulministerium.

Corona = Ferien = Nichtstun

Aber wie ist es tatsächlich um die Ausstattung bestellt? Nicht nur um die der Lehrer, sondern auch um die der Schüler? Die zum Teil in Familien leben, wo E-Mail-Adressen als ebenso exotisch gelten wie Drucker, wo sich Vater, Mutter und Kinder ums einzige Endgerät streiten müssen, das im Haushalt vorhanden ist. Wenn es überhaupt eins gibt. Oder die neue Gleichung lautet: Corona = Ferien = Nichtstun.

Zwei Schüler, ein Rechner: So sieht es in vielen Haushalten aus – wenn überhaupt.
Zwei Schüler, ein Rechner: So sieht es in vielen Haushalten aus – wenn überhaupt. © imago images/Action Pictures | imago stock

„Wir bekamen die Mitteilung Freitagnachmittag, da waren nicht mehr viele Schüler in der Schule, das mussten wir dann übers Wochenende erst mal kommunizieren und uns auf die veränderte Situation einstellen“, erinnert sich eine Lehrerin aus NRW. Sie unterrichtet an einem Gymnasium Englisch und Philosophie, möchte aber, verständlicherweise, nicht, dass ihr Name genannt wird. Die Kritik der Pädagogin in Richtung Politik: „Dass Armin Laschet gesagt hat, nun ginge es in die ,vorgezogenen Osterferien’. Jüngere Schüler haben das nicht so mitbekommen, aber für die Oberstufe war das absolut tödlich, weil das den Eindruck erweckt hat, nun hätten alle frei und bräuchten nichts mehr für die Schule zu tun.“

Sie stellt von zu Hause aus über die verschlüsselte App SchulCloud Aufgaben, zum Teil nutzt sie analoge Arbeitsbücher: „Es gibt auch eine Chat-Funktion, bei Rückfragen bin ich über Handy erreichbar.“

E-Mails, so sagt sie, seien generell keine Option: „Die sind bei Schülern total ,out of date’. Jüngere unter zwölf Jahren dürften oft Chat-Programme noch gar nicht nutzen. „Einige Kollegen machen auch Online-Unterricht, andere lehnen das ab, weil sie befürchten, dass Schüler das mitschneiden und ins Netz stellen.“

Das, was diese Lehrerin mit Engagement und Herzblut tut, nennt sie „den Versuch, Spagat zu machen“. Einerseits geriete das sehr motivierend („Es gibt Schüler, die haben eine größere Aufgabe, die nach den Ferien fertig sein soll, schon in drei Tagen fertig“), andererseits gäbe es aber auch die, die keine Möglichkeit hätten, das Geforderte umzusetzen: „Weil die Familie keinen Drucker hat.“ Dann springen andere Eltern ein, die Arbeitsblätter ausdrucken und vorbeibringen.

„Mir fehlt der echte Austausch mit meinen Schülern“

Immer wieder schreibt sie Erinnerungen in den Chat oder an Eltern jüngerer Schüler („Denkt dran, ihr müsst das und das bis dann und dann erledigen“), aber mitunter gibt es Fälle, in denen sie zur Antwort bekommt: ,Wo steht das denn?’ Das bedeutet: Die haben sich die Aufgaben noch nicht mal durchgesehen.“

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„Mir fehlt der echte Austausch mit meinen Schülern“, gesteht sie, „die Bezüge, die man normalerweise zueinander hat, sind weg. Es ist auch eine Frage des Lerntyps: Es gibt solche, die arbeiten von ganz allein sehr selbstständig, andere brauchen mehr Hilfe, persönliche Ansprache und Struktur. Und eine Frage des Alters: Je jünger Kinder sind, desto mehr Struktur ist nötig.“

Was ihr Sorge bereitet: „Die Ungewissheit. Niemand weiß, wie es weitergeht? Besonders für die, die jetzt vor dem Abitur sind, ist das schlimm.“ Was ihr Freude macht: „Man kann individuelle Fortschritte so viel besser beobachten. Und es ist spannend, ob und inwieweit diese neue Form des digitalen Unterrichts und das eigenverantwortliche Arbeiten nach der Krise stärker in den Schulalltag eingehen werden.“

„Schulaufgaben auf so einem kleinen Display zu lösen, ist kaum möglich“

Was sagt die Medienberatung NRW, die das Lernen in der digitalen Welt unterstützt, zur Belastungsprobe für unser Bildungssystem in der Coronakrise? „Uns ist klar, dass derzeit Unsicherheit darüber herrscht, wie das Lernen in Zeiten geschlossener Schulen am besten umzusetzen ist und auch, dass es damit Probleme gab“, sagt Lothar Palm (52), „aber Negatives wird immer schneller weitergetragen als Positives. An den Schulen stellen wir eine ungemeine Vielfalt von Aktivitäten fest. Etwas, was vorher im Alltag so nicht gegeben war. Die Lehrkräfte sind hoch motiviert und immens kreativ. Türen tun sich auf, Dinge nehmen Fahrt auf.“ Palm, selbst Lehrer, ist seit Dezember 2019 Geschäftsführer der Medienberatung NRW mit Sitz in Düsseldorf und Münster.

Das „Dossier NRW“ ist die Titelgeschichte in der digitalen Sonntagszeitung.
Das „Dossier NRW“ ist die Titelgeschichte in der digitalen Sonntagszeitung. © lisa diessner

„In der aktuellen Situation registrieren wir einen massiven Bedarf an Strukturen für Kommunikation: Wie kann man Unterricht nach Hause tragen? Oder wie Videopräsenzschulungen unterstützen?“, sagt Palm. Zentrale Anlaufstelle: der Internet-Auftritt medienberatung.nrw.de mit zahlreichen Angeboten für Schulen.

Immens erfolgreich sei auch: Edmond NRW, ein Gemeinschaftsprojekt von LVR, LWL und Kommunalen Medienzentren, das qualitätsgesicherte Filme für den Unterricht bereitstellt. Anfangs haben sich in Heinsberg die Zugriffe mehr als verdreifacht, inzwischen gehen Beiträge wie „Zellatmung Biologie“ oder „Podcast Autobiografie“ für den Deutschunterricht landesweit durch die Decke.

Befürchtungen, dass die Chancengleichheit im Zuge von Corona auf der Strecke bleibt, hegt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) NRW. „In Akademiker-Haushalten haben Eltern und Kinder häufig einen eigenen PC oder ein eigenes Laptop“, sagt GEW-Landesvorsitzende Maike Finnern, „in bildungsfernen Familien sieht das ganz anders aus. Da besitzen alle oft nur ein Smartphone. Schulaufgaben auf so einem kleinen Display zu bearbeiten und zu lösen, ist kaum möglich.“

Sei doch ein Rechner vorhanden, müssten sich diesen Eltern in Home-Office und Kinder im Online-Lern-Modus teilen. Auch die Finanzlage kann Ungleichheit schaffen: „Gerade erst habe ich vom Fall einer Abiturientin gehört, da musste der Vater in Kurzarbeit gehen. Die Familie hat einen alten Rechner bei Ebay ersteigert, aber der ist technisch nicht in der Lage zu leisten, was erforderlich ist, um mit den anderen mitzuziehen.“

„Unterricht und Bildung sind mehr, als sich digital auszutauschen“

Die GEW fordert, Schüler mit eigenen, geeigneten Geräten zu versorgen: „Das ist ein ganz hohes Gut, wenn es um Chancengleichheit geht.“ Auch mehr Fortbildungen und von der Schule zur Verfügung gestellte Geräte für Lehrer müsse es geben. Die derzeit Mühe mit der unsicheren Datenschutzlage hätten. „Viele Pädagogen, die von zu Hause aus ihre Privatgeräte nutzen statt den Schulserver, fragen: Darf ich das? Ist das, was ich tue, illegal? Oder befinde ich mich in einer Grauzone?“

„In den letzten Wochen ist es ganz deutlich geworden, dass Unterricht und Bildung mehr sind, als sich digital auszutauschen“, sagt die 51-Jährige, „die Schüler können sich nicht mehr treffen, um zusammen zu lernen, was gerade für Abiturienten sehr wichtig ist.“ Zwar sieht auch Finnern im Lernen auf Distanz eine Chance für Schüler, Fähigkeiten, sich selbst etwas zu erarbeiten, weiterzuentwickeln: „Aber den echten Unterricht kann das nicht ersetzen.“

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