Berlin. Kanzlerin Merkel warnt vor Leichtsinn, Laschet will die Rückkehr zur Normalität wagen. Er erhält Unterstützung von Wissenschaftlern.

Auf diesen Expertenrat hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gewartet und große Hoffnungen gesetzt. Am Ostermontag nun legte die Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina, ihre Empfehlungen zur Überwindung der Corona-Pandemie vor.

Es ist die wohl wichtigste Grundlage für die Beratungen der Kanzlerin am Mittwoch mit den Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer. Sie wollen darüber entscheiden, ob die Kontaktauflagen gelockert oder verlängert werden. Bisher gelten sie bis zum 19. April.

Auf 18 Seiten empfehlen die Experten unter anderem eine Öffnung der Schulen – zuerst der Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe I –, eine Maskenpflicht bei Fahrten mit dem öffentlichen Nahverkehr und eine schrittweise Lockerung der Auflagen bei Einzelhandel und Gas­tronomie.

Außerdem sprechen sie sich für die Nutzung von Handydaten auf freiwilliger Basis aus, um Infizierte – und Kontaktpersonen – schneller zu erkennen und zu isolieren. Überhaupt, der Infektions- und Immunitätsstatus der Bevölkerung müsse substanziell verbessert werden.

Corona-Krise: Öffnung der Schulen wäre ein politischer Wendepunkt

Die Empfehlung, den Kita-Betrieb nur eingeschränkt wieder aufzunehmen, begründen die Forscher damit, dass sich kleinere Kinder schwerer an die Distanzregeln halten können. Allgemein befürwortet die Leopoldina eine Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen „so bald wie irgend möglich“ und differenziert nach Jahrgangsstufen.

Da die Möglichkeiten des Fernunterrichts mit zunehmendem Alter besser genutzt werden, „kann die Rückkehr zum gewohnten Face-to-Face-Unterricht in höheren Stufen des Bildungssystems weiter hinausgeschoben werden“, heißt es. Kinder im Grundschulbereich (Primarstufe) benötigten hingegen die meiste Unterstützung und Anleitung – Eltern seien hier stärker auf Betreuungsleistungen der Schulen angewiesen.

Die „schrittweise Normalisierung muss mit deutlich reduzierten Gruppengrößen begonnen werden, um das Abstandsgebot besser einhalten zu können“, heißt es weiter in dem Papier.

Die Forscher nennen keinen Zeitplan, wohl aber in allgemeiner Form die Bedingungen für eine Lockerung der Kontaktauflagen: Die Neuinfektionen müssten sich auf niedrigem Niveau stabilisieren, klinische Reservekapazitäten aufgebaut und die Versorgung der anderen Patienten regulär aufgenommen werden.

Spahn stellt Lockerungen in Corona-Krise nach Osterferien in Aussicht

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    Knapp die Hälfte aller Bürger für Verlängerung der Maßnahmen

    Die Aufnahme des Schulunterrichts wäre auch für die Wirtschaft ein Wendepunkt. „Nur dann können Eltern konzentriert arbeiten und Kinder werden optimal gefördert“, erläutert der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther. Der nächste Schritt wäre nach der Analyse des IW eine höhere Taktung im öffentlichen Nahverkehr, also genug Platz auf dem Weg zur Arbeit, damit sich die Menschen nicht unnötig in gesundheitliche Gefahr bringen.

    Darüber hinaus müsse auch die Verwaltung wieder in den Normalmodus wechseln. Wer sollte ins Autohaus gehen und einen Wagen kaufen, solange die Kfz-Zulassungsstelle geschlossen ist?

    Wirtschaftsfachmann Hüther gehört auch zum Expertenkreis, der den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) berät und ihn darin bestärkt, die Rückkehr zur Normalität zu wagen. Laschet ist einer der Ministerpräsidenten, die am lautesten und offensivsten eine Exit-Strategie anmahnen, wohingegen Merkel sich bisher eher zurückhaltender geäußert hat.

    Laut einer Umfrage des Instituts Yougov plädieren 44 Prozent der Bürger für eine Verlängerung der Maßnahmen. Und zwölf Prozent würden sie sogar verschärfen.

    Exit-Strategie für eine „neue Normalität“?

    Eine baldige Lockerung befürworten der CDU-Politiker Friedrich Merz und FDP-Chef Christian Lindner, der die Planspiele aus NRW zur „Blaupause für ganz Deutschland“ machen will, sowie im Bundeskabinett Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der ebenfalls aus dem Bundesland kommt. Es sei wichtig, eine Per­spektive aufzuzeigen, so Spahn.

    Saar-Ministerpräsident Tobias Hans fordert indes einen „Masterplan für den Umgang mit dem Coronavirus in den nächsten Wochen und Monaten“. „Das Virus wird uns noch das ganze Jahr beschäftigen“, sagte der CDU-Politiker unserer Redaktion. „Es geht nicht um Rückkehr zur Normalität, sondern wie eine neue Normalität aussehen wird.“

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    Am Mittwoch geht es für die Kanzlerin beim Gespräch mit den Ministerpräsidenten nicht zuletzt darum, „ob wir bundeseinheitlich vorgehen“. Die Länder sind unterschiedlich betroffen. Pro 100.000 Einwohner hat Mecklenburg-Vorpommern nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) 38 Infizierte, Nordrhein-Westfalen 139 und Bayern 252.

    Am Ostermontag zählte das RKI 123.016 Infizierte, 2537 mehr als am Vortag. Über die Feiertage wird nicht jeder Fall elektronisch gemeldet, spätestens am Mittwoch dürfte aber die Datenbasis sicherer sein.

    Die Zahlen steigen zwar an, die Kurve wird aber flacher. Weitere Orientierungspunkte sind die Verdoppelungszeit, die momentan bei etwa 14 Tagen liegt, und der R0-Wert. Er sagt aus, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt. Zuletzt wurde er vom RKI mit 1,2 angegeben. Wenn er sich unter 1,0 einpendelt, wird es politisch leichter sein, eine Exit-Strategie in die Tat umzusetzen.

    Das Horrorszenario der kompromisslosen Kanzlerin

    Der Ausgangspunkt für Merkels Überlegungen ist, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Da klingt die Kanzlerin auch ziemlich kompromisslos. „Diese Verantwortung muss und kann mir keiner abnehmen“, sagt sie, „aber in dieser Verantwortung muss ich argumentieren.“ Momentan sind noch genug Bettenkapazitäten in den Krankenhäusern frei.

    Merkels Horrorvorstellung ist, dass man einen so großen Schritt gehe, „dass er uns wieder völlig zurückwerfen würde“. Es wäre doch das Schlimmste, argumentiert sie, „wenn wir dann sagen müssten: Jetzt sind wir wieder im Bereich des exponentiellen Anstiegs und müssen wieder die ganz harten Maßnahmen oder noch härtere Maßnahmen einführen.“

    Sollten die Auflagen am Mittwoch erst einmal verlängert werden, dann wäre das nächste natürliche Zeitfenster für eine Überprüfung und Lockerung das Wochenende nach dem 1. Mai, der dieses Jahr auf einen Freitag fällt. Bis dahin könnte man auch aus den Erfahrungen anderer EU-Länder lernen, die das Ende des Lockdowns schon früher angehen wollen – zum Beispiel Dänemark und Österreich – oder wie Schweden das öffentliche Leben ohnehin nie vollständig runtergefahren haben.

    Auch Laschets Berater warnen: „Es wird Rückschritte geben“

    Das wäre ein Vorgehen, das Merkel eine Angst nehmen würde: Wer zu früh lockert, den bestraft das Virus. Auch Laschets Berater warnen, „es wird Rückschritte geben“. Man werde „mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederholt mit einem erneuten Anstieg der Infektionszahlen konfrontiert werden“. Dann könne es nötig werden „dass wir Schritte wieder zurückgehen“.

    Mit dem Virus leben, heißt für Merkel zwangsläufig, auch Schritte gehen zu müssen, „von denen wir am Anfang nicht gleich wissen, was sie bewirken oder wie es ist“. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte in seiner Osteransprache voraus: „Die Welt danach wird eine andere sein. Wie sie wird? Das liegt an uns.“

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