Oberhausen. . In die Knappenhalde in Oberhausen wurde Ende des Zweiten Weltkriegs ein Luftschutzstollen gebaut. Bunker-Experte Karsten Leidiger gibt Einblicke.
Das Atmen fällt mir schwer. Der Angstschweiß tränkt die eh schon viel zu dünne Luft. Oberschenkel an Oberschenkel sitzen wir mit dem Rücken zur Wand in diesem schmalen Tunnel. Wie viele sind wir? 2000 Menschen? Meine Hände klammern sich fest an der Schachtel auf meinem Schoß mit dem Hochzeitsfoto der Eltern. Hoffentlich ist es nicht das Einzige, was mir bleibt. Wie wird die Welt aussehen, wenn wir herauskommen? Wer hat dieses Mal sein Zuhause verloren?
So oder so ähnlich müssen sich die Menschen gefühlt haben, als sie im Krieg den Sirenen folgten, um sich im Luftschutzstollen in der Knappenhalde in Sicherheit zu bringen. Das 500 Meter lange Stollensystem im künstlichen Hügel in Oberhausen wurde den wenigen Plänen und Aufzeichnungen zufolge wahrscheinlich 1943 geschaffen. „Auch Zwangsarbeiter und vor allem französische Kriegsgefangene kamen zum Einsatz“, sagt Karsten Leidiger. Der 48-Jährige hat die Geschichte zum Stollen ausgegraben. Für das nahegelegene Bunkermuseum konzipierte er eine Ausstellung zu diesem Thema. Das war vor sieben Jahren. Nun wollte er erneut die Halde abwandern und schauen, was vom Stollen übrig blieb.
Minuten ziehen sich hin – wie Stunden. Der Mann, der mir auf Armeslänge gegenübersitzt, wischt sich mit einem verknuddelten Taschentuch über die laufende Nase. Hoffentlich steckt er mich nicht an. Die Flöhe bin ich gerade erst losgeworden . . . Oh nein! Jetzt kratzt er sich auch noch.
„Monte Schlacko“ nennen die Oberhausener so manchen Hügel – und somit auch die höchste Erhebung ihrer Stadt. Offiziell wurde sie nach dem Knappenviertel benannt. Die Schichten der Knappenhalde spiegeln den Wandel des Ruhrgebiets wider: Auf den Ackerboden türmte ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Zeche Oberhausen, die anfangs „Königsberg“ genannt wurde, das Bergematerial auf. Nach der Schließung 1931 hinterließ die benachbarte Eisenhütte die Hochofenschlacke auf der Halde, bevor diese nach dem Zweiten Weltkrieg von den vielen Trümmern bedeckt wurde. In den 50ern begrünten Schüler, Lehrlinge und Strafgefangene die Halde. Seit den 80ern können Naherholungssuchende über die Halde spazieren, kleinere Kunstwerke stehen heute am Wegesrand. Der Aussichtsturm auf der Spitze wurde 2004 noch mal erhöht. „Bei schönem Wetter kann man bis Duisburg schauen. Oder bis zur Halde Haniel in Bottrop“, sagt Leidiger. Doch durch die wild wachsenden Bäume und den Herbstnebel ist an diesem Tag gerade mal das benachbarte Metronom-Theater zu erkennen, in dem Leidiger heute als Bühnentechniker arbeitet. Und das Centro. Das Einkaufszentrum wurde auf dem Gelände der ehemaligen Gutehoffnungshütte errichtet. Ein Angriffsziel der Alliierten.
Der Boden bebt. Hat eine Bombe die Halde getroffen? Ist der Eingang verschüttet? Bekommen wir die Stahltür wieder auf? Ich will nicht mehr! Vielleicht gehe ich das nächste Mal nicht in den Stollen. Vielleicht überlasse ich es meinem Schicksal, ob ich das überlebe. Vater unser im Himmel . . .
Ende des Krieges waren Baumaterial und Arbeitskräfte knapp, der Bedarf an Bunkerplätzen jedoch groß. Ein Stollen, den es auch in der mittlerweile abgetragenen zweiten Halde der Zeche Oberhausen gab, war kostengünstiger zu erstellen als einen Hochbunker. Der Knappenbunker in Oberhausen, in dem sich heute das Bunkermuseum befindet, war zwar komfortabler. „Es gab fließend Wasser, elektrische Beleuchtung, kleine Räume.“ Aber als die Angriffe stärker wurden, auch gefährlicher. Eine 1,40 m dicke Decke war gar nichts im Vergleich zu einem großen künstlich geschaffenen Hügel, der meterdick die Menschen vor den Bomben schützte.
Leidiger steht vor einem der Stolleneingänge. Es sieht so aus, als ob man einst gebückt reinkriechen musste. Aber der Eingang ist halb verschüttet. „Die Menschen konnten im Krieg aufrecht hineingehen.“ Insgesamt vier Eingänge hatte der Stollen. „Zwei wurden nach Kriegsende mit Trümmern überdeckt.“ Wer aufmerksam über die Halde geht, sieht auch heute noch zwischen Erdklumpen Steine, mit denen die Menschen einst ihre Häuser bauten.
Leidiger hat nur wenige Zeitzeugen gefunden, die in ihrer Jugend im verzweigten Stollen ausharrten. Viele verdrängten, was damals geschah. Ob es in der Röhre – im vorderen Bereich aus Beton, im hinteren Teil nur mit Holz abgestützt – elektrisches Licht gab? Eine Belüftungsanlage? „Da widersprechen sich die Zeugen.“
Ich muss auf Toilette. Aber in diesem Stollen gibt es keine . . .
Leidiger hat den zugemauerten Eingang mit der Farbe Orange gekennzeichnet. Ein Schild auf der dunkel gestrichenen Mauer erinnert an die Geschichte. Andere Schilder und Markierungen zum Stollen sind besprüht oder gestohlen worden. So auch an der Stelle des zweiten von einst vier Zugängen. Der befindet sich hinter einer Spundwand, die verhindern soll, dass Geröll auf die Schienen der Bahn rollen. Leidiger klettert den Hang hinauf, findet hinter wildem Grün und viel Erde den kaum sichtbaren Eingang. Es sieht aus, als ob jemand versucht hätte, ihn freizulegen. „Vor fünf, sechs Jahren haben schon mal Leute den Eingang inoffiziell geöffnet . . .“ Leidiger durfte kurz hineinschauen, in den einsturzgefährdeten Tunnel. Die Stadt ließ ihn wieder schließen. Es würde zu viel Geld kosten, den Stollen zugänglich zu machen, so Leidiger. Zuletzt hat ihn in den 50ern Anton Mayer, genannt „Pilzen Anton“, genutzt. Die feuchte Luft, die Wärme und Dunkelheit waren ideal, um Pilze zu züchten.
Ein Baby weint. Die Mutter kann es nicht beruhigen. Wie auch, was kann jetzt noch beruhigen? Nur die Hoffnung auf das Ende des Krieges lässt uns weitermachen. Auch morgen werde ich mich wieder angezogen ins Bett legen und versuchen zu schlafen. Bis die Sirenen heulen.
Auf die Frage, was ihn an der Geschichte zu dem Luftschutzstollen in der Knappenhalde fasziniert, antwortet Karsten Leidiger: „Man weiß so noch genauer, warum man nicht will, dass hier jemals wieder Krieg ausbricht.“